Der Titel von Megan Hunters Roman „Die Harpyie“ führt uns in die Welt der Mythologie. Soviel war mir klar, doch sicherheitshalber habe ich gegoogelt: „Eine Harpyie ([deutsch ‚reißender Sturm‘) ist ein geflügeltes Mischwesen der griechischen Mythologie in Vogelgestalt mit Frauenkopf.“ Das kann nichts Gutes verheißen. Zumal Hunter ein künstlerisches Ende für ihre Geschichte wählt und es der Interpretation der Lesenden überlässt, zu deren eigenen Schluss zu kommen. Ein Anruf, ein Satz – ihr Mann betrügt sie mit meiner Frau – verändert das Leben zweier Ehepaare, das beschauliche Familienleben in einem englischen Mittelschicht-Vorort, reißt sorgfältig aufgebaute Schutzmauern ein und lässt die Bestie, vielmehr die Harpyie, in Lucy von der Leine. Mit drei Bestrafungen, die sich Lucy aussuchen darf und dafür aus der Mythologie schöpft, soll das Fremdgehen ihres Mannes Jake gesühnt sein. Aber kann Strafe oder Rache verletzte Gefühle heilen, verlorenes Vertrauen wiederherstellen? Die Geschichte entwickelt eine Eigendynamik und Lucys Bewältigung der aktuellen Ereignisse wird durchkreuzt von den Erinnerungen aus ihrer Kindheit, in denen ihre Mutter dem Missbrauch durch ihren Vater – oft vor Lucys Augen – ausgesetzt war, was zu Lucys Besessenheit von den Harpyien führte. Hunter gewährt uns einen Blick auf Mutterschaft und Beziehungen, manchmal feministisch, dann wiederum fast frauenfeindlich. Lucy, die ehemalige Doktorandin, jetzt zweifache Mutter ist vor allem verärgert. Verärgert über die Art und Weise wie sich ihr Leben entwickelt hat, verärgert über ihren Mann, verärgert über die anderen Eltern in der Schule ihrer Kinder und verärgert über die Zeit, die ihre Kinder ihr abverlangen. Und so scheint es fast, als wäre Lucy erleichtert, als das Verhältnis ihres Mannes ans Licht kommt und ihrem Ärger einen Fokus verleiht und ihr eine plausible Ausrede gibt, ihren Gefühlen nachzugeben. Die Protagonistin Lucy ist schwer zu greifen, weil sie so grimmig unglücklich und humorlos gemein ist – aber sie steckt auch in einer Situation fest, in der sie nie sein wollte, und das lässt mich mit ihr fühlen. Ihr Mann hat den Job, den sie auf dem Weg war, als Universitätsdozentin zu bekommen. Ihr Ehrgeiz verließ sie, aber nicht vollends, um mit ihrem Leben, wie es ist, glücklich zu sein. Mit fortschreitender Geschichte gewinnt das Buch auf verschiedene Weise an Tiefe: Lucys Rache wird in ihren Folgen dramatischer, es ist zu erkennen, dass ihre Rachegelüste nicht nur auf Jake und jüngsten Verletzungen beruhen, sondern ihren Ursprung in ihrer Kindheit haben. Megan Hunter erkundet die Themen ihrer Geschichte „Die Harpyie“ in beunruhigender Weise und macht daraus einen messerscharfen Roman, faszinierend, mit Fantasie und Prosa.

Foto: TIm Hunter
Megan Hunter geboren 1984 in Manchester, lebt mit ihrer Familie in Cambridge. Ihr Debüt erschien 2017 bei C.H.Beck auf Deutsch, die Rechte wurden auf Anhieb in zehn Länder verkauft. Der Roman stand auf der Shortlist für den Novel of the Year bei den Books Are My Bag Awards und auf der Longlist für den Aspen Words Prize, war Finalist bei den Barnes and Noble Discover Awards und gewann den Foreword Reviews Editor’s Choice Award.
Als Lucy erfährt, dass ihr Ehemann Jake sie betrügt, soll eine verhängnisvolle Abmachung die Ehe retten: Drei Mal darf Lucy Jake bestrafen. Wann und auf welche Weise, entscheidet sie. Ein gefährliches Spiel zwischen Rache und Vergebung entbrennt – und schließlich erwacht eine Seite in Lucy, die schon immer tief in ihr geschlummert hat. Bildreich und sprachmächtig erzählt Megan Hunter ein atemberaubendes, dunkles Märchen über eine Verwandlung, aus der es kein Zurück mehr gibt.
C.H. Beck Verlag – Taschenbuch – 229 Seiten – 16,00 € – ISBN 978-3-4067-6663-3