Das neue Buch von Ferdinand von Schirach besteht aus zwei Teilen. Es ist ein Theatermonolog von knappen 57 Seiten und ein sehr intimes älteres Interview mit der SZ von etwa der gleichen Seitenzahl. Ich musste es zweimal lesen, um die hier und da abschweifenden, doch wie immer ungemein klugen Gedanken zu erfassen. Das Theaterstück ist nicht unbedingt klar strukturiert. Es macht den Eindruck, das der Protagonist angeschlagen, weil, als voreingenommener Schöffe abgelehnt, seinen Gedanken freien Lauf lässt. Bei diesen Gedanken geht es wie immer um die, wie es im Deutschlandfunk genannt wurde, Inbegriffe der Menschlichkeit. Und das Hauptthema ist die Liebe, denn ›Regen‹ hat den Untertitel, ›Eine Liebeserklärung‹. Als bekennender Freund Ferdinand von Schirachs Schriften, seiner Wortgewandtheit und auch der klugen, sanften Provokation mit einem Augenzwinkern, ist auch ›Regen‹ für mich wieder ein Buch, das mich sehr erfreut hat. Wahrscheinlich werde ich es auch ein drittes Mal lesen, bevor ich mir die Lesung auf der Bühne anhöre. Denn die Zwischentöne dieses Autors sind nicht immer beim flüchtigen Überlesen zu sehen oder zu hören.
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Der Spiegel nannte Ferdinand von Schirach einen »großartigen Erzähler«, die New York Times einen »außergewöhnlichen Stilisten«, der Independent verglich ihn mit Kafka und Kleist, der Daily Telegraph schrieb, er sei »eine der markantesten Stimmen der europäischen Literatur«. Seine Bücher wurden vielfach verfilmt und zu millionenfach verkauften internationalen Bestsellern. Sie erschienen in mehr als vierzig Ländern. Die Theaterstücke Terror und Gott zählen zu den erfolgreichsten Dramen unserer Zeit, und Essaybände wie Die Würde des Menschen ist antastbar sowie die Gespräche mit Alexander Kluge Die Herzlichkeit der Vernunft und Trotzdem standen monatelang auf den deutschen Bestsellerlisten. Ferdinand von Schirach wurde vielfach mit Literaturpreisen ausgezeichnet. Er lebt in Berlin. Zuletzt erschienen von ihm u.a. der Essayband Jeder Mensch sowie die Erzählsammlungen Kaffee und Zigaretten und Nachmittage.
Eine Freundin fragte mich: »Wie ist ›Regen‹ denn nun, die Kritiken sind ja nicht so gut.« Die Frage erstaunte mich, denn ich hatte Regen gerade durchgelesen und mir gefiel der kleine Theatermonolog mit seinen zum Teil leicht provokanten und sogar humoristischen Gedankenschleifen. So las ich es ein zweites Mal, nur um zu dem gleichen Urteil zu kommen. Es gefiel mit überaus, es ist wieder anregend, lässt mich hier und da schmunzeln und selbst in Vergangenem schweifen.
So las ich mir einige Kritiken durch, die von der Süddeutschen Zeitung, dem SWR Kultur und hörte den Bericht von Stephanie von Oppen beim Deutschlandfunk. Außer beim Deutschlandfunk, kam der Autor mit ›Regen‹ nicht so gut davon. Es wurden Worte wie, grundloses Murren, Misanthrop, hysterisch übersteigender Ton und klischeehaft benutzt. Es wurde ihm auch vorgeworfen, dass es um alles nur ein bisschen geht.
So möchte ich noch einmal klar dagegenhalten. Was hier als klischeehaft bezeichnet wird, ist für mich ein provokatives Kitzeln, ein Schmunzeln, das den Leser, Theaterbesucher zum Denken anregen soll. Grundloses Murren? Na, ich weiß nicht. Wenn er über die Anti-Raucher-Fraktion schreibt, die durchdrehen, wenn im Café geraucht wird, aber selbst gar nicht ins Café gehen, sondern lieber in den Wald, Bäume umarmen, dann muss ich schon mal lachen. Das ist für mich kein grundloses Murren, das eine lustige Spitze. Auch habe ich ein Problem damit, einen übersteigerten hysterischen Unterton in der Zivilisationskritik, der dicht an Allgemeinplätzen sein soll, zu sehen, wie der Kollege vom SWR urteilt. Was erwarte man denn, dass Herr Schirach Lebenslösungen präsentiert? Sein Protagonist spricht Wahrheiten aus, die nicht in das dynamische Weltbild eines Gewinners gehören. Und in einem Theaterstück kann man darüber keine zweihundert Seiten als Abhandlung schreiben.
Es sind nun einmal die Gedanken eines erfahrenen, gebildeten Mannes über sechzig, wie es von Stephanie von Oppen beim Deutschlandfunk gesagt wurde. Und da gebe ich ihr recht. Denn ein gewisses Alter, das eine gewisse Erfahrung, eine gewisse Resignation bereits hinter sich gebracht hat, ohne dabei unbedingt depressiv geworden zu sein, kann dem Theaterstück Regen sehr viel abgewinnen.Daher ist es für mich gerade bei der Gesellschaftskritik kein Knurren, sondern der vielleicht optimistischste Versuch, der zum Teil verrückten Ambivalenz unserer heutigen Zeit zu unterstellen, dass sie eventuell die Lösung ist.
Zitat: »Stellen Sie sich das bloß einen Moment lang vor: Jeder Mensch wäre dann nur noch ein Mensch. … Vielleicht gelingt es. Vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht. Aber wenn es gelingt, dann ganz sicher nur wegen der Ambivalenz unserer Zeit.« Zitat Ende
Und dieser Satz, an alle Kritiker gewandt, ist wohl der optimistischste Satz, den ich über die Zwiespältigkeit und Zerrissenheit unserer heutigen Zeit, den heutigen Werten und auch den Menschen bisher gelesen habe.
Was man vielleicht bei diesem kleinen Buch als ungünstig bezeichnen könnte, ist der Fakt, dass dem Stück Regen ein älteres Interview des Autors und einem Journalisten der Süddeutschen Zeitung nachsteht. Denn es hinterlässt meiner Meinung beim Leser einen falschen Eindruck und verwässert das Stück Regen in der Form, dass man beide emotional verbindet. Besser wäre es gewesen, wenn ›Regen‹ eigenständig erschienen wäre.
Aber liebe Leser, Sie alle sind eigenständig denkende Menschen, daher kann ich ihnen nur die Empfehlung geben, bilden Sie sich Ihre eigene Meinung. Ich nehme immer viel von Ferdinand von Schirachs Texten für mich mit und freue mich auf das Theaterstück auf der Bühne in der Alten Oper Frankfurt.
Regen, Ferdinand von Schirach, Luchterhand, gebundenes Buch, Seiten 112, ISBN: 978-3-630-87738-9, Euro 20,00, erschienen am 23. August 2023.