2019, zum 30. Jahrestag des Mauerfalls, erschien der Roman »Confession with Blue Horses« von Sophie Hardach in Großbritannien. Leider erst 3 Jahre später kam diese Ostdeutsche Familiengeschichte mit autobiografischen Zügen in deutscher Übersetzung auf den Markt. Und vielleicht ist diese gelungene Mischung aus Realität und Fiktion das, was diese Erzählung besonders macht: sie spricht intellektuell und emotional an, bleibt dabei glaubhaft und authentisch. Der Schuss Fiktion ist vielleicht ein bisschen Balsam für die Seele der Leser: innen, denn das Leid, der Schmerz und der Schaden, den totalitäre Staaten ihren Bürgern zufügen, ist für Menschen, die in Freiheit aufgewachsen sind, schwer nachvollziehbar und kaum verständlich.
Ein Fluchtversuch über die ungarische Grenze nach Österreich wird der Familie aus Ostberlin zum Verhängnis. Die Mutter muss ins Gefängnis, der Vater stirbt, Ella und Tobi dürfen zu ihrer Großmutter, die sich bis zur Haftentlassung der Mutter um sie kümmert. Nur über den Verbleib des jüngsten Bruders, Heiko, weiß man nichts. Später wandert die Familie nach London aus. Aber die Vergangenheit fordert ihren Tribut: Ellas Mutter, Kunsthistorikerin wie der Vater, verdient den Lebensunterhalt als Putzfrau, die talentierte Ella tut es ihr trotz Kunststudium gleich. Ihre Gedanken kreisen um die Vergangenheit, um den vermissten Bruder und sein ungeklärtes Schicksal und halten sie gefangen. Nach dem Tod der Mutter erfährt sie aus deren Nachlass, dass ihre zahlreichen Berlinreisen der Suche nach Heiko galten. Immerhin fand die Mutter heraus, dass der Fluchtversuch scheiterte, weil sie denunziert wurden. Aber von wem? Und wer hat Heiko adoptiert? Um Antworten auf ihre Fragen zu erhalten, reist Ella nach Berlin. Eine familiäre Spurensuche erfordert Mut, Ausdauer, ein Quäntchen Glück und Hilfe. Die bekommt Ella im Stasi Archiv von dem jungen Praktikanten Aaron, der versucht, die in den letzten Tagen des Kommunismus geschredderten Akten Streifen für Streifen zusammenzusetzen, sich aber nie sicher sein kann, ob er die Dokumente richtig zusammengefügt hat, oder eventuell Details fehlen.
Genauso entwickelt die Autorin ihre Geschichte: von außen nach innen, wobei sich das Geheimnis der Geschichte in Fragmenten offenbart, während sie sich zwischen Ellas Kindheitserinnerungen und komplizierten Wahrheiten bewegt. Durch Ellas Recherche werden die Widersprüche eines Berlins sichtbar, dass sich immer noch mit der Wiedervereinigung auseinandersetzt. Es ist eine Stadt, in der sich brutale Gefängnisse als Museen und Verhörbeamte als normale Bürger neu erfunden haben. »Unser geteilter Sommer« hätte ein weiterer Kalter-Krieg-Thriller werden können. Stattdessen beleuchtet Hardach auf fesselnde Weise einen Teil der jüngeren deutschen Geschichte, in deren Mittelpunkt eine Familie steht, die durch Ideologien zerrissen und die Liebe verbunden ist.
Sophie Hardach, Jahrgang 1979, ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Sie hat Politikwissenschaften studiert und arbeitet heute als Journalistin für The New York Times und den Guardian. Ihr dritter Roman, CONFESSIONS OF BLUE HORSES, war für den Costa Novel Award nominiert und hat in UK viele Leserinnenherzen gewonnen.
List Verlag – gebunden – 368 Seiten – 22,99 € – ISBN 978-3-471-36047-7