Erst einmal muss man sich an den Stil des Romans gewöhnen. Kurze Kapitel, die sprunghaft und von Gedanken, Situationen, manchmal Gesprächen oder Erinnerungen geprägt sind. Als Leser heißt es erst einmal, orientiere dich. Und hat man begonnen zu verstehen, ist kaum im Text angekommen, endet das Kapitel schon wieder. Auch die Gefühle, die sich hauptsächlich mit ihrem Bruder auseinandersetzten, sind sprunghaft und sehr ambivalent. Ich liebe dich, liebe ich dich? Du bist mir nah, du bist wie ich, eigentlich kennen wir uns nicht, so fremd bist du mir. Dennoch geht es um zwei Menschen, die immer zusammen waren, dabei so selbstverständlich, wie man sich selbst nahe ist. Und all diese zum Teil verstörenden Gefühle gehen nicht nur von der überlebenden Schwester aus. Eigentlich wir hier von der Tiefen Trauer des Bruders berichtet, der sein emotionales Leben nie in den Griff bekam und daher den für ihn einzig möglichen Schritt machte. Ein Schritt, der seine Seelenverwandte, sein Zwillingsschwester zurückließ.
Was wie ein zerstückeltes Tagebuch anmutet, versucht ein Gefühl der Leere wieder zu begraben, welches aufreißt, wenn ein geliebter Mensch in den Freitod geht. Jente Posthumas Stil ist jung, spritzig und für eine bereits fünfzigjährige Autorin erstaunlich konventionslos. Es ist ein Buch, das man schnell lesen kann, weil es einen verleitet noch ein Kapitel und noch ein Kapitel anzugehen, doch auch ein Buch, das einem am Ende nur schwer entlässt. Definitiv eine Leseempfehlung!
Autorinnenfoto: Copyright ® Bas Uterwijk
Jente Posthuma, geboren 1974, ist eine niederländische Schriftstellerin, die für ihre oft scharfzüngige und lakonische, komische Prosa von Presse und Publikum gefeiert wird. Der Roman »Woran ich lieber nicht denke« war für den Literaturpreis der Europäischen Union nominiert und stand auf der Shortlist des International Booker Prize 2024. Jente Posthuma lebt in Amsterdam.
Es geht um Geschwisterliebe von Zwillingen, die Wut, der Zorn, die Wärme und die irrwitzige selbstverständliche Annahme, diesen einen Menschen irgendwie zu besitzen. Zwischen der Schwester und dem Bruder, den Spiegelbildern ihres Selbst, war es schon immer irgendwie schwierig. In einem Moment herrscht eine Rücksichtslosigkeit, die nie so ehrlich war, wie zwischen Zwillingen, aber im anderen Moment auch verstörend intensive Liebe und Nähe. Liebt man seinen Zwillingsbruder oder seine Zwillingsschwester, dann liebt man auch sich selbst. Doch daran hapert es in der Beziehung der beiden. Keiner von ihnen liebt sich wirklich selbst genug und wie soll er oder sie dann sein Spiegelbild akzeptieren?
Als Junge kämpft der Bruder damit ausgeschlossen zu werden, er kann damals noch nicht erkennen, dass es viel mit seiner Homosexualität zu tun hat. Der Verlust des Vaters, der die Familie verlässt, hinterlässt tiefe Spuren in ihm und auch die recht gefühlskalte Mutter kann den Jungen nicht auffangen. Die Schwester hingegen weiß, so lange ihr Bruder bei ihr ist, kann so schnell nichts passieren. Und dann ist er von heute auf morgen weg. Er ist gegangen und hinterlässt nur nichtssagende Tagebücher einer Depression, einen flachen Abschiedsbrief, der weder tröstet noch hilft. Und dann ist sie allein, obwohl sie doch verheiratet ist, obwohl Leo sie doch liebt. Ihre eigene andere Hälfte ist plötzlich weg und sie fragt sich, wie kann man als halber Mensch eigentlich leben.
Der Roman ist nur halb so düster, wie das Thema, das er behandelt. Denn der spritzige Stil der Autorin behält den Finger immer am Puls des Lebens und nicht des Todes. Wirklich interessant zu lesen, und wenn man erst einmal anfängt, dann kommt noch ein Kapitel dazu und noch eins und dann ist die Geschichte erzählt. Eine Geschichte, die sich mit Verlust und Wiederfindung auseinandersetzt.
Zitat am Ende des Buchs: „In leeren Augenblicken, zum Beispiel, wenn ich auf die Straßenbahn warte. Fühle ich, wie ich in meinem Körper lande. Es nicht das Gleiche wie Fallen, ich spüre zuerst meine Beine, dann die Füße, dann den Boden. Und dann stehe ich, fest wie eine Frau, die weiß, was sie auf der Welt zu suchen hat.“
Woran ich lieber nicht denke, Jente Posthuma, Luchterhand Verlag, gebundene Ausgabe, Seiten 256, ISBN 978-3-630-87799-0, Buch Euro 22,00, Neuerscheinung 26.02. 2025, aus dem Niederländischen von Andreas Ecke.