Es ist immer ein besonderer Augenblick ein neues Buch in den Händen zu halten. Und manchmal – noch vor dem Öffnen des Buches – weiß man intuitiv, dass die Erwartungen und die Ansprüche an das Buch erfüllt werden. So in diesem Fall. Thilo Wydras Doppelbiografie ist eine literarische Pastete: es ist alles drin – Biografie, Geschichte, Liebesroman, Sachbuch, Familiengeschichte, Feminismus, Emanzipation und natürlich Kinogeschichte. Dennoch ist Wydra strukturiert und hat seine Biografie klar gegliedert: Teil I, England, Die frühen Jahre (bis 1938), Teil II, Amerika, Golden Age (bis 1970), Teil III, Der Ausklang, Die letzten Jahre und wie es sich beim Film gehört gibt es einen Abspann und für die Statistiker den Anhang mit Zeittafel, Filmographie, Bibliographie usw. Was mich jedoch noch mehr als alles andere begeistert, ist die spürbare Neugier, mit der sich Wydra auf Spurensuche begibt und dieses komplexe Bild von Alma und Alfred Hitchcock zeichnet. Dankenswerterweise vertraut der Autor nicht nur auf die Kraft der Worte, sondern setzt auch auf die Wirkung von Fotos, die Alma und Alfred in den unterschiedlichen Lebensphasen zeigen. Beide, in den letzten Monaten des 19. Jahrhunderts geboren, entdecken früh ihre Liebe zum Film, besser gesagt zum Stummfilm, Alma bezeichnet sich selbst als „filmverrückt“. Überhaupt Alma. Sie, so könnte man den Eindruck gehabt haben, war die Frau hinter Alfred Hitchcock. Wydra deckt auf, dass es die selbstgewählte Rolle, in der sie sich am wohlsten fühlt, ist. Auch wenn sie Erfahrungen vor der Kamera sammeln konnte, drängte es sie nie in den Vordergrund und so beendete sie ihre Schauspielkarriere noch bevor der Tonfilm Einzug in die Filmtheater hielt. Selbstbestimmt und Selbstbewusst schon in den frühen Zwanzigern und von Anfang an auf Augenhöhe mit Alfred, von Familie und Freunden „Hitch“ genannt. Im Schneideraum und später als Drehbuchautorin war diese 1,50 m große schüchterne Frau in ihrem Element. Schüchtern war auch Alfred. Eine der vielen Eigenschaften, die dieses außergewöhnliche Paar gemeinsam hatte. Für sie traf „Gegensätze ziehen sich an“, nicht zu. Abgesehen vielleicht von der Physionomie. Obwohl die ersten fünfzig Jahre dieses Paares von zwei Weltkriegen und deren Auswirkungen überschattet waren, schwingt in Wydras Biografie eine Leichtigkeit und ein Optimismus mit, dass man das Paar auf der Sonnenseite des Lebens wähnt. Dies sei ihnen gegönnt und wohlgemerkt, es war die Sonnenseite, kein Dolce Vita. Denn wer in 53 gemeinsamen Jahren 53 Filme – Spielfilmlänge – produziert, d.h. Drehbücher schreiben, Castings, Filmsets, Regiearbeit, Schnitt bis hin zur endgültigen Version, muss sehr gerne sehr viel arbeiten und schafft das vielleicht auch nur mit einem Partner an der Seite, dessen Urteilsvermögen man 100%ig vertrauen kann.
Thilo Wydra, einer der auszog, eine Doppelbiografie über Alma und Hitch zu schreiben und mit einer Würdigung, einer Hommage oder doch eher einer Liebeserklärung für ein außergewöhnliches Paar, zwei leuchtende Sterne am Filmhimmel, dem wir viele wunderbare, spannende und zeitlose Filmerlebnisse verdanken, zurückkam.
Thilo Wydra, geboren 1968 in Wiesbaden, lebt in München. Nach dem Studium der Komparatistik, Germanistik, Kunstgeschichte und Filmwissenschaft an den Universitäten Mainz und Dijon (Burgund) arbeitet er seit den frühen 1990er Jahren als freier Autor und Publizist und hat in verschiedenen Zeitungen (Der Tagesspiegel, FAZ, NZZ am Sonntag, etc.) und Zeitschriften publiziert. Von 2004 bis 2011 war er Deutschland-Korrespondent der Internationalen Filmfestspiele von Cannes. Seit 2012 ist er als Fachberater und TV-Experte bei ZDF-History-Dokumentationen tätig. Er ist Autor zahlreicher Künstler-Biographien und Filmbücher, darunter u.a. Rosenstraße (2003), Romy Schneider (2008), Alfred Hitchcock (2010), Grace. Die Biographie (2012), Ingrid Bergman. Ein Leben (2017), Hitchcock’s Blondes (2018), des Bestsellers Eine Liebe in Paris – Romy und Alain (2020), Gegenwärtig sein. Margarethe von Trotta (2022) und Grace Kelly und Diana Spencer – Zwei Frauen. Zwei Leben. Ein Schicksal (2022). Seine Bücher wurden bislang in sieben Sprachen übersetzt.
Es ist eine außergewöhnliche Verbindung: In 53 Jahren als verheiratetes Paar erschaffen Alfred Hitchcock und seine Frau Alma ein unvergleichliches Werk – 53 Filme, darunter zeitlose Klassiker wie Rebecca, Das Fenster zum Hof, Psycho oder Die Vögel. Doch Almas so erheblicher Anteil am Erfolg ihres weltberühmten Ehemanns wurde bislang kaum gewürdigt. In Los Angeles hat Autor Thilo Wydra sich nun auf die Spuren dieses Jahrhundertpaares begeben und in den Archiven der Oscar Academy Zugang zu unzähligen, teils unausgewerteten Quellen erhalten. Er besuchte in Kalifornien zwei der drei Enkelinnen von »Hitch« und Alma, die bewegend und ganz unmittelbar von ihren Großeltern berichten.
Heyne Verlag – gebunden – 496 Seiten – 24,00 € – ISBN 978-3-4532-1826-0