Jochen Buchsteiner: Wir Ostpreußen

Kurz vor ihrem 90. Geburtstag hat sich die Großmutter des Autors letztlich dem schmerzvollen Prozess des Erinnerns unterzogen und niedergeschrieben, wie sie – 35-jährig – die Flucht für die Familie und die Bediensteten der beiden Güter in Götzlack und Kukehnen vorbereitete und den Treck drei Monate vor Kriegsende mutig anführte: 84 Personen, 11 vollbeladene Wagen gezogen von insgesamt 38 Pferden. Die 60-seitige „grüne Kladde“ seiner Großmutter Else, in der diese über das Familienleben und ihre Flucht aus Ostpreußen schreibt, bildet die Grundlage für Jochen Buchsteiners neues Sachbuch „Wir Ostpreußen“.  Buchsteiner hat es sich nicht leicht gemacht und ist respektvoll und gewissenhaft mit diesem „Schatz“ umgegangen. Zusammen mit seinem Vater und seinem Sohn reiste er in die Heimat seiner Familie und begab sich auf Spurensuche. Ganz offensichtlich wollte er nicht nur eine weitere Familiensaga über Flucht und Vertreibung schreiben. Dazu ist er wohl zu sehr Journalist, schaut genau hin – auch auf die kleinen, vermeintlich unbedeutenden, Dinge –  und weiß zu recherchieren. Und so verwundert es nicht, dass Buchsteiner die Aufzeichnungen seiner Großmutter Else in die damaligen politischen Ereignisse eingebettet hat, über den ostpreußischen Widerstand gegen Hitler und die Rolle der russischen Propagandisten und Schriftsteller schreibt, aber auch der Tatsache nachgeht, warum gerade in Ostpreußen Hitlers Propaganda auf so fruchtbaren Boden fiel. Und auch Thomas Manns Begeisterung für Ostpreußen, die sich später in politische Abstoßung wandelte bleibt nicht unerwähnt. Buchsteiner macht das alles ohne Pathos, ohne Klischees und ohne „Marjellchens“. Leicht distanziert übernimmt er die Erzählerrolle, was nicht darüber hinweg zu täuschen vermag, dass er mit ganz viel Herzblut erzählt. Er hat mich Ostpreußin mit auf Entdeckungsreise genommen und mir einen neuen Blick auf die Heimat meiner Familie gewährt, für den ich mich ganz herzlich bedanke.

Und wer es wissen will, dem sagt Buchsteiner: „Vielleicht lässt sich Ostpreußen am besten so beschreiben: als mittelosteuropäische Einwanderungsgesellschaft mit preußisch-deutscher Leitkultur, die über Jahrhunderte verschiedene staatliche Formen annahm“.

Foto: Daniel Pilar

Jochen Buchsteiner, geboren 1965, studierte Politikwissenschaften und Allgemeine Rhetorik. Er war Parlamentskorrespondent der ›ZEIT‹ und berichtete danach 20 Jahre lang für die ›Frankfurter Allgemeine Zeitung‹ aus Südasien, dem Indopazifik und Großbritannien. Heute arbeitet er als Politischer Korrespondent der ›Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung‹ wieder in Berlin. 2005 erschien sein Buch ›Die Stunde der Asiaten. Wie Europa verdrängt wird‹, 2018 ›Die Flucht der Briten aus der europäischen Utopie‹.

Der detaillierte Fluchtbericht seiner Großmutter ist Ausgangspunkt für Jochen Buchsteiners Buch über Ostpreußen. Persönlich aber unsentimental verfolgt er den Weg der Gutsbesitzerfamilie in den Westen und spürt dabei dem Verlust nach, der nicht nur den Betroffenen entstanden ist. Es entsteht ein Portrait der fast vergessenen deutschen Provinz, die in ihrer Tragik, aber auch in ihrer historischen und kulturellen Einzigartigkeit sichtbar wird – als verdrängter Teil unserer nationalen Identität.

dtv Verlagsgesellschaft – gebunden – 288 Seiten – 26,00 € – ISBN 978-3-4232-8470-7

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert