Benjamin Myers: Strandgut

cAlex de Palma

Benjamin Myers zieht mich mit seiner schlanken, fast schnörkellosen Geschichte „Strandgut“, die aus Sicht der beiden Protagonisten Earlon »Bucky« Bronco, einem amerikanischen Soulsänger und der Britin Dinah, einem Soulsuperfan, erzählt wird in seinen Bann. Ganz ohne Pathos und Klimbim und ohne ins Triviale abzurutschen oder in Kitsch zu versinken. Zwei verlorene Seelen, die einen Halt bräuchten, haben sich mit ihrem Leben arrangiert und keine Erwartungen mehr. Earlon »Bucky« Bronco ist ein menschliches Wrack. Obwohl erst 70, dümpelt er nach dem Tod seiner Frau vor sich hin und wartet, vollgepumpt mit opiathaltigen Schmerztabletten gegen seine schmerzenden Knochen, auf den Tod. Nur – so leicht stirbt es sich nicht. Vor allem, wenn plötzlich und unerwartet eine Einladung – samt großzügigem Honorar – zum britischen Scarborough Soul Weekend in sein bescheidenes Chicagoer Heim flattert. Die ruhmreichen Tage seiner Erfolge liegen Jahrzehnte zurück. Was er als Teenager so vielversprechend begonnen hatte, konnte er als Erwachsener nicht fortführen. Von dem Geld, das er für den Verkauf der Rechte an seinen Songs erhielt, kaufte er eine Wohnung, in der er heute noch lebt. Er ist nie aus Chicago fortgegangen und so ist er vollkommen überrascht, dass er in Scarborough eine Art Legende ist und fast jeder seinen Namen kennt. Dinah ist mit einem ebenso trinkfesten wie arbeitsscheuen Ehemann gesegnet und der gemeinsame Sohn eifert dem Vater nach. Trost findet sie in der Musik und Vergessen findet sie, wenn sie sich in die Wellen der kalten Nordsee stürzt. Myers ist großzügig und ich spüre, dass er seine Figuren mag. So lässt er das Leben zweite Chancen verteilen, sie müssen nur genutzt werden. »Bucky« findet seinen Frieden mit seiner Vergangenheit und Dinah kann sich eingestehen, dass ihre Ehe am Ende und Vergangenheit ist. Damit sind sie offen für das, was kommt. Dramaturgisch zum richtigen Moment läuft Myers zur Hochform auf. Sehr glaubwürdig, sehr bildhaft und eindringlich erzählt er »Buckys« Weg zur Bühne zu seinem Auftritt. Ganz großes Kino!

cAlex de Palma

BENJAMIN MYERS, geboren 1976, ist Journalist und Schriftsteller. Für seine literarischen Arbeiten hat er mehrere Preise erhalten. Sein Roman ›Offene See‹ (DuMont 2020) stand wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste und wurde mit dem Preis des unabhängigen Buchhandels als Lieblingsbuch des Jahres ausgezeichnet. 2021 erschien ›Der perfekte Kreis‹, 2022 ›Der längste, strahlendste Tag‹ und 2024 ›Cuddy – Echo der Zeit‹ (alle DuMont). Er lebt mit seiner Frau in Nordengland.

 

 

WERNER LÖCHER-LAWRENCE, geboren 1956, ist als literarischer Agent und Übersetzer tätig. Zu den von ihm übersetzten Autor*innen zählen u. a. John Boyne, Meg Wolitzer, Patricia Duncker, Hisham Matar, Nathan Englander, Nathan Hill und Hilary Mantel.

Earlon »Bucky« Bronco hat mit seinen siebzig Jahren noch nie das Meer gesehen. Und doch treibt er seit dem Tod seiner Frau durch Chicago wie ein Schiffbrüchiger. Zwischen Bett und Walmart-Apotheke zählt er die Stunden bis zum Ende. Da erreicht ihn eine unerwartete Nachricht: eine Einladung zu einem Soul-Festival im englischen Scarborough. Tatsächlich hat Bucky eine Vergangenheit als Soulsänger, doch in den USA sind seine wenigen Songs längst vergessen. An der britischen Küste angekommen, begreift er, dass er hier eine Art Legende ist. Und er trifft auf Dinah, eine melancholische und lebenskluge Mittfünfzigerin, die ihren deprimierenden Alltag am besten vergessen kann, wenn sie Buckys Lieder hört oder sich in die kalte Nordsee stürzt.
Benjamin Myers erzählt von zwei Gestrandeten, von den Stürmen des Lebens und dem Sog der Erinnerung. Vor allem aber erzählt er vom Meer, auf dessen Oberfläche immer ein Streifen Hoffnung schimmert.

Dumont Buchverlag – gebunden – 308 Seiten – 24,00 € – ISBN 978-3-7558-1083-4

 

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