Markus Gasser: Lil

Ich kann nur staunen, was Markus Gasser alles in rund 240 Seiten zu packen vermag. Ein wahrer Künstler des Komprimierens. Es wimmelt nur so von Figuren und Nebenfiguren, Gedanken, Ideen, Geschichten und Nebengeschichten, dass ich mich zeitweise wie auf der Achterbahn fühle. Innerhalb von drei Seiten weiß ich, dass die Ich-Erzählerin Sarah aufgrund einer Krebs-OP und der damit einhergehenden Strahlentherapie von ihrem Job als Journalistin des Wall Street Journals beurlaubt wurde und sie die Ur-ur-ur-urgroßenkelin der Titelgebenden Protagonistin Lil (Lilian Cutting) ist. Gasser erzählt seine Geschichte nicht chronologisch, sondern springt munter von einer Zeitebene in die andere – vom Krankenbett im hier und heute ins New York des späten 19. Jahrhunderts und von da direkt in die feine Nervenklinik Hop Island, in der der Direktor mehr am richtigen Ort zu sein scheint, als Lilian. Lil lernt es auf die harte Tour – wer Familie hat, braucht keine Feinde – und schon gar keinen Sohn, der die eigene, verwitwete Mutter aus Habgier in eine Nervenklinik einweist und sie da versauern lassen will – auch wenn die Klinik noch so luxuriös ist und die Vandermeers und Balmoral Damen, also die Damen der oberen Vierhundert New Yorks, aus und eingehen. Ja, die Figuren von Gasser sind schräg. Allen voran Sarah, die nicht nur mit ihrem Hund Miss Brontë spricht, sondern auch gelegentlich die eine oder andere Blume um deren Meinung fragt. Zugegeben, manches mutet etwas gewollt und auch verkopft an, aber es ist unterhaltend, spannend und interessant. Vor allem, wie Lil sich rächt. An ihrem Sohn und der New Yorker Gesellschaft. Sie adoptiert einen jungen Chinesen, der sie bei ihrem Rachefeldzug unterstützen und sie immer daran erinnern soll, was man ihr angetan hat.

Foto: Peter-Andreas Hassiepen

Markus Gasser, geboren 1967 in Österreich, ist Romancier, Essayist, Universitätsdozent und Schöpfer des beliebten YouTube-Kanals „Literatur Ist Alles“. Zuletzt erschienen von ihm u. a. „Das Königreich im Meer“, „Die Launen der Liebe“, „Das Buch der Bücher für die Insel“ und „Eine Weltgeschichte in 33 Romanen“. Der Autor lebt mit seiner Frau und einer labyrinthischen Bibliothek in Zürich.

Sie ist eine Ausnahmeerscheinung im New York um 1880, nicht nur unter den herrschenden Familien der Stadt mit ihrem sagenhaften Reichtum, den Belmorals und Vandermeers: Lange Zeit hat die Eisenbahnmagnatin Lillian Cutting, an der Seite ihres loyalen Mannes Chev, mit ihrem exzentrischen Führungsstil noch die kühnsten Spekulanten überflügelt. Und sich mächtige Feinde gemacht. So scheint es ihrem Sohn Robert nach Chevs Tod ein Leichtes, Lillian mit Hilfe eines sendungsbewussten Psychiaters zu entmündigen und in eine geschlossene Anstalt wegsperren zu lassen. Aber Lil nimmt den Kampf auf gegen eine Gesellschaft, die Eigensinn als Krankheit denunziert.

C.H. Beck Verlag – gebundenes Buch – 238 Seiten – 24,00 € – ISBN 978-3-4068-1375-7

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