Es ist meine erste literarische Begegnung mit dem Autor und schon auf der ersten Seite hat er mich sprachlich und stilistisch gepackt. Die Geschichte und die Personen werden DAS Sahnehäubchen sein. Und ich habe mich nicht getäuscht. Supino schreibt flott und spannend, dazu sehr bildhaft. Ich sehe die Gruppen von Männern, die in den Straßen sitzen und sich unterhalten genauso vor mir wie die Stadtteile und Häuser, in die die Suche nach Antonio Esposito, genannt O`Nirone, uns – den Ich-Erzähler und mich – führt. Durch den Ich-Erzähler verstärkt sich der Eindruck, dass dieser neue Roman autobiografische Züge trägt. Bei allem Lokalkolorit sollte man sich nicht täuschen: hier geht es nicht um Mafiafolklore á la Hollywood, sondern der Untergang der Camorrafamilie wird aus Sicht des Ich-Erzählers auf zeitlich unterschiedlichen Ebenen geschildert. Gleich auf der zweiten Seite bringt Supino die mafiöse Machokultur auf den Punkt, wenn er schreibt: „Er hatte, was ein richtiger Mann hier besaß: Geld, Einfluss und Schwierigkeiten mit der Justiz.“ Besser kann man es kaum formulieren. Der Ich-Erzähler, der mit seinen Eltern – Arbeitsmigranten aus der Umgebung von Neapel – in der Schweiz, genauer gesagt in Solothurn lebt, verbringt die Ferien bei den Großeltern in Neapel. Hier ist es ganz anders als in der Schweiz der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts. Die Männer sind cooler, tragen sichtbar Waffen, was den jungen Ich-Erzähler gleichzeitig ängstigt und fasziniert. Als der Ich-Erzähler seufzt: „All diese Namen“, bin ich erleichtert, dass es nicht nur mir so geht. Aber im „Rione Esposito“ sind eben alle Mitglieder der Familie Esposito. Und im Laufe der Geschichte wird klar: Verbrechen und Kapitalismus verbindet mehr als man meint: entweder wirst du mächtiger und reicher – oder du verschwindest. In späteren Jahren kehrt der Ich-Erzähler immer wieder nach Neapel zurück. Immer wieder auf der Suche nach seiner eigenen Identität.
Franco Supino, 1965 geboren in Solothurn, wuchs als Kind italienischer Eltern zweisprachig auf. Er studierte in Zürich und Florenz Germanistik und Romanistik. Supino ist Dozent an der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz und freier Autor. Sein erster Roman Musica Leggera erschien 1995. Es folgten fünf weitere Romane, in denen Supino die eigene Migrationsgeschichte und verschiedene Künstlerbiografien erzählend erforscht. In den letzten zehn Jahren hat er sich vermehrt der Kinder und Jugendliteratur zugewandt. Franco Supino lebt mit seiner Familie in Solothurn.
Seine Spurensuche führt den Erzähler in das vom Erdbeben zerstörte Heimatdorf der Eltern, in die Edel- und die Elendsviertel von Neapel und in die Migrantenstadt Castel Volturno. Vor allem aber zieht ihn ein geheimnisvoller schwarzer Camorrista in Bann: Wohin ist Antonio Esposito, genannt o`Nirone, verschwunden?
Rotpunktverlag – gebunden – 256 Seiten – 29,00 € – ISBN 978-3-858-69958-9