Das Buch ist das Ergebnis einer akribischen Recherche. Diese wurde mit vielen kompetenten Mitarbeitern, Experten und auch der Familie des ehemaligen NS Gouverneurs von Krakau und Galizien, dem Massenmörder Otto Wächter durchgeführt. Es verfolgt Otto Wächters Leben vom Studium über die Heirat mit Charlotte und seinem Aufstieg als überzeugter Nazi. Philippe Sands beleuchtet Wächters Verbrechen in Krakau, Lemberg und ganz Galizien, bis zu seiner Flucht über Bozen nach Rom. Dort will er über die Rattenlinie nach Südamerika auswandern. Eine Flucht, die nicht nur von der Kirche unterstützt, sondern auch von den Alliierten geduldet wurde. Denn 1949 war es den Amerikanern und auch den Sowjets wichtiger, sich gegeneinander auszuspionieren, als Nazigrößen zu jagen. Man wusste damals, wo Otto Wächter war.
Ein Buch, das sich spannend wie ein Krimi liest. Die geschichtlichen Hintergründe sind wahnsinnig gut dokumentiert. Doch es handelt auch von der Familie Wächter, den unerschütterlichen Glauben an den Nationalsozialismus und den Führer. Den Akt des Leugnens, wenn es um Massenhinrichtungen geht, die der Vater befehligt hat. Die Blindheit, die für Jahrzehnte weiter zelebriert wurde und die Liebe einer Frau und ihres Sohnes für einen Monster.
Ganz großartiges Buch. Für jeden an Geschichte und Politik Interessierten ein Leckerbissen!
Fotocopyright: Antonio Zazueta Olmos
Philippe Sands, geboren 1960, ist Anwalt und Professor für Internationales Recht und Direktor des Centre on International Courts and Tribunals am University College London. Leidenschaftlich setzt er sich für humanitäre Ziele und das Völkerrecht ein. Er formulierte u. a. die Anklage gegen den chilenischen Diktator Pinochet. Sands hat selbst Wurzeln in Lemberg, wo der Großteil seiner Familie während des Krieges ermordet wurde. »Rückkehr nach Lemberg« wurde ausgezeichnet mit dem renommierten Baillie Gifford Prize und dem Wingate Literaturpreis 2016 und war Buch des Jahres bei den British Book Awards 2017.
Wahrscheinlich ist es nur der großen Liebe von Charlotte von Wächter zu ihrem Mann Otto zu verdanken, dass man so viel über den Mann erfahren konnte. Denn sie hütete ihre Korrespondenz, die Fotos, Zeichnungen und Tagbücher wie einen Schatz. Erst nach ihrem Tod hinterlässt sie ihrem jüngsten Sohn Horst das Vermächtnis einer Liebe, einer Familie und eines berühmt, berüchtigten Naziehepaars. Von Anfang an waren Charlotte und Otto begeisterte Nationalsozialisten. Otto Wächter war einer der Initiatoren des Juliputsch 1934 bei dem Kanzler Dollfuß erschossen wurde. So muss Otto nach Deutschland fliehen, was ihn in Kontakt bringt mit den Nazi Größen bis hin zu Hitler. Der studierte Jurist tritt früh in die SS ein und macht durch seine Disziplin und Hartnäckigkeit beim Ausführen seiner Aufgaben auf sich aufmerksam. Schnell wird er protegiert und nach der Machtübernahme und Anschluss Österreichs ein wichtiger Mann für Himmler.
Ohne Skrupel werden Häuser und Kunstwerke von der Familie Wächter vereinnahmt, die einst Juden oder politischen Gegnern gehörten. Charlotte ist die Grand Dame der Nazi-Elite und schillernde Ehefrau von Wächter. Auch wenn der sich immer mal wieder in ein amouröses Abenteuer stürzt, steht Charlotte mit ihren mittlerweile vier Kindern fest hinter ihrer großen Liebe. Eine Berufung zum Gouverneur von Krakau, die Errichtung des Ghettos und die Säuberung von Galizien werden von Otto Wächter akribisch verfolgt. Genauso akribisch, wie Charlotte und Sohn Horst nach Ottos Tod für seine Unschuld plädieren. Nach Kriegsende flieht Wächter über Bozen nach Rom, wo ihm vom Vatikan durch Bischoff Alois Hudal geholfen wird. Doch bevor Wächter nach Südamerika fliehen kann, stirbt er an einem Leberversagen. Wurde er vergiftet?
Es ist schwer zu lesen, von der kalten Selbstverständlichkeit mit der ein Ehepaar den Tod vieler Menschen in Kauf nimmt. Wie sie sich deren Besitztümer angeeignen. Wie es bei keinem jemals Reue gab. Doch zu erfahren, dass nicht nur die Kirche, sondern auch die Alliierten diese Naziverbrecher schützten, wenn es ihren Zielen half, dann wird es bitter. Philippe Sands hat die damaligen Geschehnisse verfolgt. Ein Familienarchiv durchforstet und die entsprechenden Akten der Geheimdienste eingesehen, die anscheinend typisch für die Epoche der Nachkriegszeit war.
Ein großartiges Dokument deutscher Zeitgeschichte vor dem persönlichen Hintergrund einer bekannten Nazi-Familie. Philippe Sands hat für sein Buch „Rückkehr nach Lemberg“ einige Auszeichnungen erhalten und ich bin der Überzeugung, dass auch „Die Rattenlinie“ nicht ohne Literaturpreis bleiben wird.
Die Rattenlinie, Philippe Sands, S. Fischer, gebundenes Buch, Seiten 544, ISBN: 978-3-10-397443-0, Euro 25,00.