Ein bewegendes Buch nicht nur für Jugendliche. Mehr als geeignet für junge und alte Erwachsene. Die Geschichte der jungen Jüdin Zofia, die halb tot von den Russen aus einem Konzentrationslager befreit wird, ist bittersüß, herzergreifend und sehr erwachsen. Denn kaum hat sich das Mädchen einigermaßen erhohlt, geht sie auf die Suche nach ihrem jüngeren Bruder. Den Einzigen ihrer Familie, der mit ihr im KZ Birkenau angekommen war. Alle anderen der Familie, der Vater, die Mutter, Großmutter und auch die bildhübsche Tante Maja überleben noch nicht einmal den Transport.
Immer noch völlig geschwächt reist sie durch das chaotische und besetzte Deutschland, welches immer noch voller Ressentiments gegen Juden ist. In einem Auffanglager der Amerikaner, findet sie das erste Mal wieder Normalität und dann steht plötzlich Abek vor ihr. Ihr geliebter Bruder und dennoch stimmt etwas ganz und gar nicht.
Ich würde dem Jugendbuch das Prädikat sehr wertvoll verleihen.
Fotocopyright: Cassidy Duhon
Monica Hesse stammt aus Illinois, ist Schriftstellerin und außerdem Journalistin bei der Washington Post. Sie lebt mit ihrem Mann und einem verrückten Hund in Washington. »Das Mädchen im blauen Mantel«, ihr erster Roman, der auf Deutsch erschien, stand auf der New-York-Times-Bestsellerliste und erhielt zahlreiche Preise, darunter den renommierten Edgar Award in der Kategorie »Junge Erwachsene«, und wurde von der Jugendjury für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2019 nominiert.
Die Familie Ledermann hat ihre kleine Textilfabrik in Niederschlesien. Sie sind glücklich, haben Freunde und einen guten Ruf. Bis die Nazis kommen und sie mit den restlichen Juden von Sosnowiec unter Vorwand in das Stadium treiben. Von dort geht es in KZs. Der tagelange Transport ohne Wasser und Essen fordert die ersten Opfer und wer noch lebend in Birkenau ankommt wird in zwei Gruppen eingeteilt. Die, die nach links gehen in den Tod und die, die nach rechts gehen in die Zwangsarbeit. Nur die zwölfjährige Zofia und ihr neujähriger Bruder Abek sind die letzten Ledermanns, die nach rechts gehen können. Doch als das Mädchen nach Groß Rosen verlegt wird, verliert sie Abek.
Nach der Befreiung ist nicht nur Zofias Körper völlig entkräftet und malträtiert, auch ihr Geist weist Erinnerungslücken auf. Sie dreht sich gedanklich im Kreis, kann sich nicht erinnern, wann sie Abek das letzte Mal sah. So fährt sie mit Dima, ihrem sowjetischen Befreier in ihr letztes Zuhause, doch auch dort ist Abek nicht. Auf eigen Faust und ganz allein wagt sie die Reise Richtung München, denn dort gibt es ein Auffanglager für Menschen aus Birkenau. Endlich angekommen findet sie zwar nicht ihren Bruder aber dafür junge Menschen, die verstehen, was sie durchgemacht hat. Auch sie haben das KZ überlebt und sehen jetzt in die Zukunft. Unter ihnen ist auch Josef, ein verschlossener, wütender junger Mann, der sich zu Zofia genauso hingezogen fühlt, wie sie sich zu ihm. Als Abek dann wirklich eines Tages im Lager auftaucht, scheint Zofias ihr Glück kaum zu fassen. Wegen ihrer Liebe zu Josef und mit ihrem Bruder kann sie jetzt wieder ein Leben anfangen.
Doch nicht alles ist, wie es scheint, nicht alles kann heilen und vor allem kann nicht alles vergessen und verziehen werden.
Ein wunderschönes Buch, das ohne viel Schmus und ohne auf die Tränendrüse zu drücken, sehr gradlinig erzählt wird. Mit Zofia erschafft die Autorin einen enorm starken Charakter, der nicht nur vollkommen lebensecht erscheint. Zofia besticht mit ihren Reaktionen und am Ende mit ihren Entscheidungen. Großartige Erzählung!
Von der Geschichte können wir gerade jetzt viel lernen. Denn, wenn wir uns nur für einen Moment vorstellen, wie die Menschen in den KZs Weihnachten und Silvester für Jahre verbrachten, dann wird der kindische Ruf, die Corona-Regeln zu lockern, nur um zu feiern, zum Hohn. Vielleicht sollten wir uns öfter unserer Vergangenheit erinnern, um selbst einmal ein paar kleine Opfer zu bringen.
Sie mussten nach links gehen, Monica Hesse, cbj Verlag, gebundenes Buch, Seiten 445, ISBN: 978-3-570-16602-4, Euro 18,00.