Joanna Quinn: Das Theater am Strand

Joanna Quinn gehört zu den Menschen, die den Lockdown nutzten und endlich das taten, was sie schon immer machen wollten. Die Journalistin schrieb ihren ersten Roman. Und was für ein Debüt! Am Ende der 720 Seiten hatte ich das Gefühl, Jahre mit dieser lebhaften, fiktiven Familie verbracht zu haben. Dank der umfangreichen, guten Recherchen von Ms. Quinn ist die Geschichte reich an beschreibenden Passagen und Elementen, Authentizität und Bildhaftigkeit. Der Abschnitt über das Erwachsenwerden, die Schmerzen und der Prunk der Kindheit auf dem englischen Landgut ist eindringlich und kenntnisreich. Schillernd zeigt die Autorin die seltsame, einfallsreiche Magie auf, die von einer Gruppe von Kindern heraufbeschworen werden kann, wenn sie von selbstsüchtigen Erwachsenen vernachlässigt werden. Beaufsichtigt von einer vagen französischen Gouvernante bilden sie sich mit Büchern weiter, die aus dem Arbeitszimmer gestohlen wurden. Der Kriegsabschnitt beeindruckt durch Realität und legt Seiten der Charaktere frei, die uns sonst verborgen blieben. Letztlich sind es Menschen, vom Leben verletzt und gezeichnet, die trotz allem noch an Hoffnung, Liebe und an den Zauber von Geschichten glauben. Herzzerreißende Momente, aber auch solche, die das Herz erwärmen. Von den Hauptfiguren sticht für mich Jasper heraus, der als jemand dargestellt wird, dessen äußere Erscheinung ein überraschend komplexes, emotionales Inneres verbirgt. Quinn ist eine energische erzählende Näherin. In ihren riesigen Wandteppich näht sie Briefe, Listen, Sammelalbumeinträge, dramatische Dialoge sowie die sexuell abenteuerlichen Tagebucheinträge der weiteren Protagonistin Maudie und gelegentlich ein Stück konkrete Poesie. All dies ist schön und ungezwungen, ein wenig atemlos, mit köstlichen Essensszenen von Anfang bis Ende. Quinns Vorstellungskraft und Abenteuergeist sind eine seelische Augenweide und verheißen weitere beeindruckende Arbeiten.

 

Foto: Nancy Turner

Joanna Quinn wurde in London geboren, wuchs aber in der Grafschaft Dorset im Südwesten Englands auf. Sie arbeitete als Journalistin für ein Lokalblatt und für Wohltätigkeitsorganisationen. Während dieser Zeit schrieb sie an ihrem Debüt »Das Theater am Strand«, ein Roman, der genau so werden sollte, wie die Bücher, die sie am liebsten liest: »Geschichten, die so üppig und dicht sind wie ein dickes Daunenbett, in das man sich fallen lassen kann.« Vollendet hat sie ihren Roman während des Lockdowns, alleinerziehend und ohne Job. Dass sie auf die richtige Karte gesetzt hat, zeigt der große internationale Erfolg des Romans, der sich in zehn Länder verkaufte und gleich nach Erscheinen in die britische Bestsellerliste einstieg.

Wibke Kuhn, Jahrgang 1972, arbeitete nach dem Studium der Skandinavistik und Italianistik zunächst im Verlag. 2004 machte sie sich als Übersetzerin selbstständig. Sie überträgt skandinavische, englischsprachige und niederländische Romane und Sachbücher ins Deutsche (u. a. Stieg Larsson, Hendrik Groen und Nell Leyshon) und lebt in MünchenC

Dorset an der Küste Englands, 1928: In einer stürmischen Nacht wird ein Blauwal angespült. Nach dem Gesetz gehört alles Strandgut dem König – doch die zwölfjährige Cristabel Seagrave hat eigene Pläne. Sie ist wild entschlossen, aus den Walknochen ein Theater am Strand zu errichten. Eine Bühne für all die Geschichten, die sie heimlich in der staubigen Familienbibliothek gelesen oder denen sie im Verborgenen gelauscht hat. Geschichten, die nicht für ihre Ohren bestimmt sind und in denen Mädchen wie sie keine Rolle spielen. Doch nun ist Cristabels Zeit gekommen. Während ihre Eltern hauptsächlich mit sich selbst und ausschweifenden Partys beschäftigt sind, inszeniert Cristabel gemeinsam mit ihren jüngeren Geschwistern immer neue Geschichten in ihrem Freilufttheater, das bald zu einer kleinen lokalen Sensation wird. Doch die Zeiten ändern sich, Krieg steht bevor und die Geschwister müssen erkennen, dass sie nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Leben eine Rolle zu spielen haben. Und dass man sich diese Rolle nicht immer selbst aussuchen kann…

C.Bertelsmann – gebunden – 720 Seiten – 23,00 € – ISBN 978-3-570-10466-1