Lügen über meine Mutter, Daniela Dröscher

Es ist ein berührendes, tief bewegendes Buch, über das ich noch lange nachdenken musste, nachdem es gelesen war.

Daniela Dröscher führt uns durch vier Jahre ihrer Kindheit, durch vier Jahre Ehe ihrer Eltern, die man als subtile Ehehölle bezeichnen sollte. Durch vier Jahre eines kaum auszuhaltenden Hunsrücker Landleben und dennoch durch Jahre einer relativ normalen Familie dieser Zeit. So leidet ihre Mutter, die nie mit Vornamen genannt wird unter ihrer Herkunft als Kriegsflüchtling aus Schlesien, unter ihrer Schwiegermutter, die sich was Besseres für den Sohn gewünscht hätte und vor allem unter ihrem Mann, der das Glück und den Frieden der Familie an jedem Gramm Körpergewicht seiner Frau festmacht. Und dennoch behält sich diese Frau, gefangen in familiären Konventionen und den gehassten Kilos immer ihren Blick für das Wesentliche. Den Mut jeden Tag für die zu kämpfen, sie sonst untergehen würden und weiter zu existieren, obwohl der Mensch in ihr, unter all den Fettpolstern nie gesehen wird.

Als Frau fand ich manche Erzählungen unerträglich und mich hielten die erklärenden Retrospektiven der Autorin nach jedem Kapitel über Wasser. Manches Mal störten mich die Anmerkungen der Autorin und mittlerweile erwachsenden Tochter. Doch ich konnte mir meine Meinung bilden und empfinde Respekt für die Mutter, die es viele Jahre aushielt, bis das letzte Kind alt genug war, um ihre persönliches Lebensinferno hinter sich zu lassen.

Autorinnenfoto: Copyright ® Caroline Saage

Daniela Dröscher, Jahrgang 1977, aufgewachsen in Rheinland-Pfalz, lebt in Berlin. Sie schreibt Prosa, Essays und Theatertexte. Studium der Germanistik, Philosophie und Anglistik in Trier und London, Promotion im Fach Medienwissenschaft an der Universität Potsdam sowie ein Diplom in »Szenischem Schreiben« an der Universität Graz. Ihr Romandebüt »Die Lichter des George Psalmanazar« erschien 2009 im Berlin Verlag, es folgten der Erzählband »Gloria« und der Roman »Pola« sowie das Memoir »Zeige deine Klasse. Die Geschichte meiner sozialen Herkunft« bei Hoffmann & Campe. Sie wurde u.a. mit dem Anna-Seghers-Preis, dem Arbeitsstipendium des Deutschen Literaturfonds sowie dem Robert-Gernhardt-Preis (2017) ausgezeichnet. Seit Herbst 2018 ist sie Ministerin im Ministerium für Mitgefühl.

Vieles war halt damals so. Gewalt und Machtmissbrauch mussten Frauen nicht nur auf eine körperliche Weise erfahren, auch verbal kann man vergewaltigen, psychologisch foltern und Menschen klein machen. Die Zeit damals, die gesellschaftlichen Zwänge und auch die Erwartungen von Familienangehörigen bescherten so mancher Frau eine aussichtslose Situation. Die Autorin ist sechs Jahre alt und wird uns erzählen, wie sie ihre Mutter wahrgenommen hat, bis sie zehn war. Das Buch ist für eine Frau nicht einfach zu ertragen. Verstehen Sie mich nicht falsch, liebe Leser, dieses Buch ist hervorragend, doch wenn man sich in der Geschichte als Kind wiederfindet, dann ist es auch bitter. Das eingezwängte Leben ihrer Mutter, scheint mit jedem Kilo das sie zunimmt auszuarten. Ihr Mann verordnet ihr jeden Morgen das Kontrollwiegen, suggeriert ihr Komplexe und Scham und lässt sie völlig allein, wenn ernsthafte Probleme anstehen. Das alles passiert aus seiner eigenen Schwäche und seinen Minderwertigkeitskomplexen heraus. Und sie, die Mutter, versucht die Kinder, die eigene demente Mutter, die verbitterte Schwiegermutter und auch die rachsüchtige Nachbarin irgendwie unter Kontrolle zu halten. Dass sie sich dabei schützende Rettungsringe aus Fettpolstern zulegt, ist nicht erstaunlich. Und selbst, als sie endlich eine große Erbschaft macht, wird wieder über ihr Geld bestimmt, wie man das immer schon mit ihrem Körper versuchte. Zu lesen, wie sich die Gepeinigte am Ende rächt, wie sie den Schlussstrich setzt, lässt uns den Beobachter mit offenem Mund zurück. Es wäre fast lustig, wenn es nicht so tragisch und verrückt wäre.

Die Autorin erzählt mit Bewunderung von ihrer Mutter, mit Vorwürfen, mit Erstaunen und auch mit ihren kindlichen Ängsten und der kindlichen Liebe. Ein großartiges Buch, eine irre Erzählung und ein warnendes Pamphlet, das jede Frau ermahnt, nie wieder in das emanzipatorische Mittelalter der 1970. und 1980. zurückzukehren.

Lügen über meine Mutter, Daniela Dröscher, Kiepenheuer & Witsch, gebundene Ausgabe mit Schutzumschlag, Seiten 448, ISBN: 978-3-462-00199-0, Euro 24,00, E-Book Euro 19,99, erschienen am 18.08.2022.