Wodolaskin schildert mit viel Feingefühl: Die Stimme schwebte mühelos übers Wasser, begleitet von den Lichtern des Gutshauses, ich zitterte vor nächtlicher Kälte und von den neuen Gefühlen, die mich überschwemmten und scheut sich nicht, andererseits deutlich die Misshandlungsmethoden und Leiden der Lagerhäftlinge zu beschreiben. Dagegen steht wirkungsvoll der Realismus des Arztes und der Frau des Helden, beide Kinder einer anderen Generation. Es gefällt mir, wie der Roman modern daher kommt, umgeben von der Melancholie der russischen Seele, die mich berührt. „Überhaupt glaube ich, einen Menschen richtig zu beschreiben kann man nicht ohne Liebe“ lässt der Autor Jewgeni Wodolaskin seinen Helden dieses sagen und beherzigt selbst im Umgang mit Innokenti Platonow diese Worte. Einfühlsam beobachtet er die Entwicklung seines Helden vom Mann ohne Gedächtnis, der so alt wie das Jahrhundert ist, nämlich 99 Jahre, aber äußerlich keinerlei Anzeichen eines solch hohen Alters aufweist hin zum Zeitgenossen.
Jewgeni Wodolaskin, geboren 1964 in Kiew, arbeitet nach einem Philologiestudium und der Promotion seit 1990 in der Abteilung für altrussische Literatur im Puschkinhaus (Institut für russische Literatur) in St. Petersburg. Sein Roman „Laurus“, ein internationaler Bestseller, wurde bisher in 29 Sprachen übersetzt. „Luftgänger“ wurde bisher in 14 Sprachen übersetzt und stand 2016 auf Platz 2 des renommiertesten russischen Buchpreises „Bolschaja kniga“ (Großes Buch). 2019 erhielt Jewgeni Wodolaskin den Solschenizyn-Preis. Jewgeni Wodolaskin lebt mit seiner Familie in St. Petersburg.
Übersetzerin: Ganna-Maria Braungardt, geboren 1956, studierte russische Sprache und Literatur in Woronesh (Russland), Lektorin, seit 1991 freiberufliche Übersetzerin. Sie übertrug u. a. Swetlana Alexijewitsch, Ljudmila Ulitzkaja, Polina Daschkowa, Boris Akunin, Jewgeni Wodolaskin und Juri Buida ins Deutsche. Ganna-Maria Braungardt lebt in Berlin.
Platanow befindet sich in einer russischen Klinik. Wie lange schon oder warum weiß er nicht. Sein Arzt Geiger teilt ihm seinen Namen mit und fordert ihn auf, seine Erinnerungen täglich aufzuschreiben. Jede Tagebucheintragung wird zum Teil eines Puzzles in dem Erinnerungen auf Gegenwärtiges trifft und der Protagonist sein Leben bis zum dreißigsten Lebensjahr rekonstruieren kann. Innokenti erfährt auf diese Weise, dass er Kunststudent war, politisch nicht sonderlich interessiert, sein Vater in der Revolution Opfer von pöbelndem Mob erschlagen wurde, der Vater seiner Freundin von einem einquartierten Fabrikarbeiter ohne Grund denunziert und in Haft erschossen wird. Die Willkür macht auch vor Innokenti nicht Halt und so wird er verhaftet und sein Geständnis erpresst. Er kommt in ein Straflager, muss erleben wie sadistische Exzesse eskalieren und ihm ein – fiktives – Geheimlabor zum Verhängnis wird. Die Lücke von 69 Jahren schließt Geiger: Weltkrieg, Stalinzeit, Sowjetunion, das Ende der Sowjetunion, Glasnost und Perestroika, um nur einige zu nennen.
Ein Mann erwacht in einem Krankenzimmer und kann sich an nichts erinnern. Sein Arzt verrät ihm nur seinen Namen: Innokenti Platonow. Als die Erinnerung langsam zurückkommt, formt sich das Bild eines bewegten Lebens: Eine behütete Kindheit im Russland der Zarenzeit, der Sturm der Revolution, roter Terror und der Verlust einer ersten großen Liebe. Bald treibt ihn vor allem eine Frage um: Wie kann er sich an den Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erinnern, wenn die Tabletten auf seinem Nachttisch aus dem Jahr 1999 stammen?
Jewgeni Wodolaskin: Luftgänger, Aufbau Verlag – gebunden – 429 Seiten, ISBN 978-3-351-03704-8, € 24,-