Unverheiratet, viel zu jung und schwanger. Sie kann nicht in Marokko bleiben und geht in die Schweiz. Dort wird ihr Sohn der Icherzähler geboren. Er wächst auf bei der alten Witwe Elvezia, in einem kleinen Bauerndorf. Sie spricht Dialekt und klappert mit ihren Holzschuhen durchs Haus. Von ihr bekommt er Geborgenheit, heiße Schokolade und ein Zuhause. Erst als seine Mutter ihn mit zu seiner Familie nach Marokko nimmt, wird es sich des Zwiespalts und seiner Wurzellosigkeit bewusst. Plötzlich soll er Arabisch lernen und darf am Religionsunterricht nicht mehr teilnehmen. Zwischen zwei Welten verliert sich der Jugendliche und sucht seinen Platz. Alexander Hmines Schreibstil wirkt wie Momentaufnahmen, die kurz eine Szene ausleuchten, um dann zur Nächsten zu springen. Es liest sich eher wie ein Drehbuch, doch genau diese Art zu erzählen, fängt den Zwiespalt des Jungen auf. So hin- und hergerissen, wie er ist, beschreibt er sein Leben. Für den Leser gewöhnungsbedürftig, doch genial.
Autorenfoto: ® Andrea Mazzoni
Alexandre Hmine, geboren 1976 in Lugano, hat in Pavia Literatur studiert und unterrichtet heute Italienisch an einem Gymnasium in Lugano. Sein nun auf Deutsch vorliegender Debütroman wurde mit dem Studer/Ganz-Preis und 2019 mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet.
Das kleine Bauerndorf im Tessin ist seine Heimat. Der Schnee, die Nikolausfeiern, der Fußballplatz und die alte Elvezia. Sie ist Mutter und Großmutter in einem. Sie bringt ihm Lesen und Schreiben bei, betet nachts am Bett mit ihm und näht ihm seine Faschingskostüme. Hier geht er zur Schule, hierher wird der erste Fernseher geliefert, und wenn es Ravioli gibt, sind es immer achtzehn Stück auf seinem Teller. Das Kind ruht in der Geborgenheit der alten Frau. Eigentlich hätte er nie gemerkt, dass er anders ist, wenn ihn seine Mutter nicht mit auf Urlaub nach Marokko genommen hätte. Plötzlich lernt er Menschen kennen, die nicht seine Sprache sprechen, die so anders sind als die Menschen im Dorf. Doch diese Fremden sind seine Familie. Wieder zurück ist er weder hier noch dort zu Hause und hat das Gefühl sich selbst, sein Wurzeln zu verlieren. Wurzeln die er eigentlich nie richtig kennengelernt hat.
„Ich wünschte mir, jemand würde mir von ihm (seinem Vater) erzählen, von seinen guten und schlechten Taten. Vermittelte mir eine klare, konkrete Vorstellung. Ich fühle mich hilflos.“
Eine großartig erzählte Geschichte, kurze Szenen, die wie mit der Taschenlampe aufleuchten und dann wieder im Schatten verschwinden.
Milchstraße, Alexander Hmine, Rotpunkt Verlag, gebunden, Seiten 256 Seiten, ISBN 978-3-85869-905-3, Euro 24,00.