Dora ist Mitte dreißig und Werbetexterin. Während der Coronapandemie, dem Trump Desaster, dem Klimaschutz-Aktivismus und den Erwartungen ans Gutmensch-Sein verliert sie sich selbst. Mit einer Kurzschlussreaktion, die symptomatisch einer Depression ähnelt, bricht Dora mit ihrem Lebenspartner und kauft ein Haus in Bracken. Das alte schwer renovierungsbedürftige Haus in der brandenburgischen Provinz hat es ihr angetan. Ohne Auto, mit einer Matratze, ihrem Fahrrad Gustav, einem Koffer und ihrem Hund landet sie im absoluten Nirgendwo. Ihr gegenüber wohnt der kleine Heini, ein paar Häuser entfernt Tom und Steffen, ein schwules Paar und ihr Nachbar ist Gottfried, genannt Gote. Er stellt sich ihr mit den Worten vor: Ich bin hier der Dorf-Nazi. Gar nicht witzig, vor allem, weil Dora abends hört, wie Gote mit zwei seiner Rechten Schergen das Horst Wessel Lied am Lagerfeuer schmettert. Eigentlich will sie nur noch weg, doch es dauert nicht lange und sie verliert durch die Pandemie ihren Job bei der Werbeagentur. Jetzt kann sie es sich nicht mehr leisten abzuhauen. Und dann passiert etwas, womit Dora nie gerechnet hätte. Sie muss wegen Gote eine Entscheidung treffen, die nur von ihr als Mensch für einen Menschen getroffen werden kann. Wieder einmal ein Juli Zeh Roman, der dem Leser nicht die Chance gibt, sich nur aus der Distanz entertainen zu lassen. Man wird automatisch zu Dora, überdenkt ihre Entscheidungen, ist entsetzt davon, begeistert davon und fragt sich, wie human man selbst eigentlich in ihrer Situation wäre. Wie human man eigentlich selbst ist.
Juli Zeh wird mit jedem Buch besser. Eine scharfsinnige und scharfzüngige Beobachterin unserer Gesellschaft, die mit Menschen Milde walten lassen kann und mit Leuten hart ins Gericht geht. Literatur der Spitzenklasse!
Autorenfoto: ® Peter von Felbert
Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, studierte Jura in Passau und Leipzig. Schon ihr Debütroman „Adler und Engel“ (2001) wurde zu einem Welterfolg, inzwischen sind ihre Romane in 35 Sprachen übersetzt. Ihr Gesellschaftsroman „Unterleuten“ (2016) stand über ein Jahr auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Rauriser Literaturpreis (2002), dem Hölderlin-Förderpreis (2003), dem Ernst-Toller-Preis (2003), dem Carl-Amery-Literaturpreis (2009), dem Thomas-Mann-Preis (2013), dem Hildegard-von-Bingen-Preis (2015) und dem Bruno-Kreisky-Preis (2017) sowie dem Bundesverdienstkreuz (2018). 2018 wurde sie zur ehrenamtlichen Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg gewählt.
Eigentlich sollte man hier nicht mehr über die Geschichte sagen. Dennoch will ich Sie neugierig machen, mit einigen Zitaten aus dem Buch, die einfach nur für sich selbst sprechen und hoffentlich Lust machen, Über Menschen zu lesen!
Zitate:
… Hier auf dem Land herrscht eine Anarchie der Dinge. …
… bekommen die Menschen Burn-out. Gleichzeitig dreht sich das Rad immer schneller. Als könnte man der Unsinnigkeit des Rennens durch Schneller-Rennen entkommen. …
… Über jeden Irrtum, jeden Zweifel erhaben. Angehörige einer Gruppe, die das Mängelwesen Mensch transzendiert hat. Da kam Dora nicht mehr mit. …
… Lockdown, Morbidität, Triage. Die Panik stieg, als wären Krankheit und Tod neu erfunden worden. …
… Multitasking ist eine Art Konzentrationsschwäche. …
… Niemandem kann es gleichgültiger sein als einer Tannenmeise, ob die Menschheit zugrunde geht oder nicht. Außer den Virenstämmen braucht uns keiner, denkt Dora. …Horst Wessel und Hortensien. Könnte der Anfang eines dadaistischen Gedichts sein. …
… Die Wahrheit lautet, dass es völlig egal ist, ob Dora geht oder bleibt. Weil Nazis nicht aufhören zu existieren, nur weil man nicht mehr neben ihnen wohnt. …
… Er hat recht. Sie hat schon wieder die Pandemie vergessen. Vielleicht ist ihre neue Gewöhnung ans Sein nichts weiter als Realitätsverlust. …
… Das Zauberwort heißt »trotzdem«. Trotzdem weitermachen, trotzdem da sein. Trotzdem liegt da drüben ein Mensch. …
Über Menschen, Juli Zeh, Luchterhand, gebundenes Buch, Seiten 416, ISBN: 978-3-630-87667-2, Euro 22,00.