Erinnern Sie sich daran wo und mit wem Sie seinerzeit die erste Mondlandung gesehen haben? An Neil Armstrongs Worte: ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein großer Sprung für die Menschheit? Oder an das tragische Ende der Challenger Mission?
55 Jahre nach der ersten Mondlandung überrascht Samantha Harvey mit ihrem Roman Umlaufbahnen, der im Original unter dem Titel Orbital erschien und einschlug wie ein Komet, und den Booker Prize erhielt. In der Begründung sagte die Jury: „Hoffnungsvoll, aktuell und zeitlos“ und deutsche (inklusive mir), wie internationale Kritiker stimmen in das Loblied ein. Alles was über dieses Buch geschrieben wurde hätte ich auch gern geschrieben…
Kurz vor einem Flug erhielt ich mein Exemplar von Umlaufbahnen. Genau richtig, standen mir doch einige Stunden ungestörte Lesezeit bevor. Von der ersten Seite an zieht mich Samantha Harvey in ihren Bann. Was für eine atemberaubend schöne, fast meditative Geschichte! Die eigentlich keine Handlung hat, sondern die Leser: innen nur an einen Tag im Leben der Astronauten Nell (Engländerin), Pietro (Italiener), Chie (weiblich, Japanerin), Shaun (Amerikaner) und Roman und Anton (Russen) auf der internationalen Raumstation ISS teilhaben lässt. Die Schönheit ihrer Sprache liegt in ihrer Schlichtheit und ist trotzdem voller Poesie, mit philosophischen und politischen Gedanken. Immer wieder bin ich von ihren Beschreibungen überrumpelt und kämpfe mit aufsteigenden Tränen. Ja, es ist zum Weinen schön! Einfühlsam und sehr glaubwürdig zeichnet Harvey das Bild von ihren Charakteren und wird ihnen – so unterschiedlich sie auch sein mögen – gerecht und macht aus ihnen keine Superhelden im Weltraum. Vielmehr lässt sie es menscheln und die Protagonisten mehr von sich preisgeben, als diese vielleicht wollen. Was denken Sie auf ihrer Umlaufbahn um die Erde, die sie 16 Sonnenaufgänge an einem Tag erleben lässt? „Sie denken viel darüber nach, wie es möglich sein kann, so schnell zu reisen und doch nirgendwo anzukommen. Ihr (Nell) erscheint das seltsam. All deine Träume von Abenteuer und Freiheit und Entdeckungen kulminieren in dem Verlangen Astronautin zu werden und dann kommst du hier oben an und sitzt in der Falle…“ Besonders, als sie erfährt, dass ihre Mutter gestorben ist. Viel zu schnell bin ich auf der letzten, der 214 Seiten angelangt, aber es ist alles gesagt. Und es bedarf mehr als eine butterweiche Landung, um mich zurück auf die Erde zu holen.

Foto: Samantha Harvey
Samantha Harvey, 1975 geboren, ist eine britische Schriftstellerin von mehreren Romanen und einem Memoir. Ihr literarisches Werk erhielt hymnische Besprechungen und wurde für viele renommierte Preise nominiert, u.a. dem Man Booker Prize und dem Women’s Prize for Fiction. Sie lebt in Bath und unterrichtet dort Kreatives Schreiben. ›Umlaufbahnen‹, ihr fünfter Roman, wurde für mehrere Preise nominiert und mit dem Booker Prize 2024 ausgezeichnet.
Julia Wolf, 1980 geboren, ist Schriftstellerin und Übersetzerin. Für ihre Romane (›Walter Nowak bleibt liegen‹, ›Alte Mädchen‹) erhielt sie u.a. den 3sat-Preis, den Licher Literaturpreis und war für den Deutschen Buchpreis nominiert. Zu ihren übersetzten Autoren gehören neben Samantha Harvey auch Szilvia Molnar und Joy Williams.
Sechs Astronauten schweben in einer Raumstation durchs All. Den Planeten Erde umkreisen sie in 90 Minuten, sechzehnmal in 24 Stunden. Die zwei Frauen und vier Männer aus ganz unterschiedlichen Nationen arbeiten, essen und schlafen auf engstem Raum – und doch ist alles losgelöst vom Alltag, Schwerkraft und Zeitempfinden sind außer Kraft gesetzt. Was passiert, wenn man seine Heimat nur aus weiter Ferne durch ein kleines Fenster sieht? Wie verändern sich Denken und Fühlen? In dem Zeitraum von nur einem Tag, während die Sonne sechzehnmal auf- und untergeht, betrachtet dieser ungewöhnliche, kraftvoll poetische Roman die großen und kleinen Fragen der Menschheit und bringt uns der Schönheit des Universums ganz nahe.
dtv – gebunden – 224 Seiten – 22,00 € – ISBN 978-3-4232-8423-3