Es ist das erste Mal, dass sich Dirk Bernemanns und meine Wege kreuzen. Kaum zu glauben, gehört Bernemann doch zu den ungeheuer fleißigen Schreibern, die immer was zu sagen haben. Seit 2005 hat er immerhin 19 Romane und Kurzgeschichtenbände veröffentlicht. Und nun „Kalk“. „Stefan Kalk“. Kalk für den „in die Enge getriebenen alten weißen Mann“ oder doch eher Kalk, wie ein sehr wichtiges Salz, durch dessen unterschiedliche Verarbeitung, wie etwa Brennen oder Löschen, ein Kalkkreislauf entsteht durch den Kalk in jede gewünschte Form gebracht werden kann.
Also „Kalk“. Auf den ersten Blick ein sehr durchschnittlicher Mann im zweiten Lebensdrittel, dem selten ein zweiter Blick vergönnt ist. Aber das ist die Oberfläche. Wird daran gekratzt, und hört man Kalk zu, überrascht dieser vermeintlich schlichte Mensch mit einem Tiefgang und interessanten Gedanken, die man nicht bei ihm vermutet. Er macht sich über vieles Gedanken. Über seine Eltern. Über seine Freundin Nina, die er gehen lässt, um sie zu halten und deren Sohn Fynn, der Berufssoldat werden will. Zusammen mit Förster, Kalks wöchentlichem Tischtennispartner, sind es seine sozialen Kontakte außerhalb des Elektrofachhandels in dem er arbeitet. Der wohlverdiente Urlaub in Holland, genauer in Kijkduin, verändert für kurze Zeit sein Leben. Er rettet ein Kind vor dem Ertrinken und wird zum Held. Aber auch Helden haben es nicht leicht. Die dankbaren Eltern des geretteten Kindes ziehen ihn in ihre Welt brüchiger Harmonie, die offensichtlichen Avancen der Mutter öffnen die Büchse der Pandora und Kalk kann sie nicht mehr schließen. Selbst zurück in der Sicherheit seiner Wohnung verliert er mehr als nur die Kontrolle über sein Handeln.
Sprachgewandt, sehr gut, bis ins kleinste Detail beobachtet, lässt Bernemann keinen Zweifel daran wem seine Sympathie gehört. Er zeichnet ein eindringliches Bild von Stefan Kalk und begleitet ihn bis zum bitteren Ende.
Dirk Bernemann, geboren 1975 im westlichen Münsterland ist Schriftsteller und Journalist. Er ist Autor zahlreicher Romane und Kurzgeschichtenbände, darunter der Bestseller „Ich hab die Unschuld kotzen sehen“. Zuletzt erschien 2021 sein Roman „Schützenfest“ bei Heyne Hardcore. Dirk Bernemann lebt in Berlin.
Kalk, Mitte fünfzig und beflissener Mitarbeiter in einem Elektrofachgeschäft, muss raus. Der Lethargie des Alltags entfliehen, durchatmen und die Seele baumeln lassen. In Kijkduin, jenem Ort in den Niederlanden, an dem er schon als Kind mit seinen Eltern die Urlaube verbrachte, scheint Kalk Erholung zu finden. Als er ein Kind vor dem Ertrinken rettet, erwacht in ihm sein längst vergessenes Selbstbewusstsein und aus dem Antihelden wird ein Held. Er wächst über sich hinaus, geht an seine Grenzen und erfindet sich neu. Doch schnell verliert sich Kalk in der Fülle der Möglichkeiten, die sein gesteigertes Ego mit sich bringt, sein neues Ich entgleitet ihm und er droht sogleich alles zu verspielen. Letztlich holt ihn nicht nur die eigene Vergangenheit ein, sondern er lädt auch eine Schuld auf sich, die sich nicht einfach mit dem nächsten Bier in der Strandbar wegspülen lässt. Eine bitterböse Gesellschaftsstudie und ein Psychogramm des in die Enge getriebenen alten weißen Mannes.
Westend Verlag – gebunden – 215 Seiten – 24,00 € – ISBN 978-3-9496-7114-2