Die meisten Leser: innen kennen „Das Tagebuch der Anne Frank“ und wissen um ihr Schicksal. Weniger bekannt hingegen ist, dass etwa 9000 junge Emigranten aus Deutschland und Österreich, meist Juden, die in den USA eine neue Heimat gefunden hatten, während des Zweiten Weltkrieges in einem Ausbildungszentrum der United States Army, genannt Camp Ritchie, von der Feldnachrichtentruppe der US Army, ausgebildet wurden. Unter den sogenannten Ritchie-Boys waren viele bekannte Persönlichkeiten wie Stefan Heym, Hans Habe, Hanus Burger, Georg Kreisler und – Guy Stern. Sehr spät – mit fast einhundert Jahren – erinnert sich Stern und erzählt aus seinem langen, facettenreichen Leben. Er erinnert seine Kindheit in seiner Heimatstadt Hildesheim. Er überlebt als einziger seiner Familie den Holocaust, weil der Vater in weiser Einschätzung des Nazi-Regimes den ältesten Sohn Guy nach Amerika schickt. Er beschreibt seinen schulischen und akademischen Weg und thematisiert mehrfach seine Dankbarkeit für die neue Heimat und die Möglichkeiten, die sie bietet. Stern erzählt von seiner Rekrutierung als Ritchie-Boy, allerdings nichts über die Ausbildung zum Military Intelligence Officer (militärischem Geheimdienstler). Sterns Erinnerungen seines Berufs- und Privatlebens umfasst ein halbes Jahrhundert. Er schreibt erstaunlich offen über seine beiden gescheiterten Ehen und findet erst spät in seiner dritten Ehe sein Glück. Ich bin beeindruckt von den umfassenden und faszinierenden Einblicken, die Stern dem Leser in sein Zwangsexil gewährt. Er schreibt unaufgeregt, elegant, mit Witz und Humor, intelligent und vor allem niemals langweilig. Sprachlich ist diese Autobiografie das Highlight des ersten halben Jahres 2023 für mich. Analytisch klar spricht der Autor über den Verlust seiner Familie, Freunde und seiner Heimat, wobei er dem Leser Details und die tiefen Emotionen erspart. Er teilt mit dem Leser seine Gedanken über die Eingewöhnung in die neue Heimat – die vielleicht auch die persönliche Eroberung des neuen Lebensmittelpunktes ist. Sterns Vita zeugt von einem langen, prall gefüllten Leben mit einem Blick nach vorne.
Guy Stern, geboren am 14. Januar 1922 in Hildesheim als Günther Stern, ist ein deutsch-amerikanischer Literaturwissenschaftler und ehemaliger Ritchie Boy. 1937 emigrierte er in die USA und schloss sich dort der Spezialeinheit der Ritchie Boys an, die in Europa von 1944 bis Kriegsende deutsche Kriegsgefangene verhörte. Nach dem Krieg studierte er Romanistik und Germanistik und lehrte nach dem Krieg an amerikanischen und deutschen Universitäten. Er ist u.a. der Direktor des Internationalen Instituts für Altruismusforschung am Holocaust-Museum in Detroit und Präsident des PEN Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland. Er ist Ehrenbürger seiner Geburtsstadt Hildesheim, Ritter der französischen Ehrenlegion und erhielt zahlreiche weitere Auszeichnungen, darunter das Große Verdienstkreuz der BRD und die Goethe-Medaille. Verheiratet ist er mit Susanna Piontek und lebt in Michigan.
Susanna Piontek, geboren 1963 in Bytom/Polen, ist Schriftstellerin und Journalistin. Nach einem Studium der Sprachlehrforschung, Amerikanistik und Geschichte Nordamerikas an der Ruhruniversität Bochum folgte eine wissenschaftliche Tätigkeit an der Universität des Saarlandes und eine Ausbildung zur Journalistin und Rundfunkredakteurin, bis sie 2006 in die USA emigrierte. Dort lebt sie in Michigan als freie Autorin zahlreicher Kurzgeschichten und Gedichte, die in Europa, den USA und Israel erscheinen. Sie ist mit Guy Stern verheiratet.
Aufbau Verlag – gebunden – 304 Seiten – 23,00 € – ISBN 978-3-351-03943-1