Natasha Pulley: Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit

Natasha Pulley hat hier etwas wirklich Meisterhaftes geschaffen: Technik und Struktur mit viel schillernder, unbeschreiblicher Intimität auf eine Weise ausbalanciert, die es unmöglich macht, sich dem zu entziehen. Das Ergebnis ist ein komplexer und sehr lebendiger Roman, der viel zu erzählen hat über Krieg und Zivilisation, Traumata und Erinnerung, Liebe und Opfer – und die Menschen, die darin herzzerreißend verstrickt sind. Aber das, was Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit wirklich ausmacht, ist die zentrale Liebesgeschichte. Die Charakterentwicklung in diesem Roman muss erlebt werden; der Autorin gelingt es, dass sich die Protagonisten ganz allmählich in das Unterbewusstsein schleichen und an Präsenz gewinnen. Ehe man es bemerkt, ist es passiert. Es ist eine Zeitreise-Geschichte, ein Mysterium, und es geht buchstäblich darum, die Geschichte zu verändern. Es kämpfen riesige Schiffe, es gibt Waffen, Gewalt und Blut. Ereignisreicher könnte es wohl nicht sein. Und doch geht es hier im Kern um Liebe. Und genauso wünscht man sich eine Liebesgeschichte: langsam, ungewiss, zaghaft und voller Sehnsucht. Dennoch: bei allem magischen Unterton, nicht im wörtlichen Sinne von Magie, sondern in der Art, wie sie ihre Geschichte webt, schreibt Pulley keinen Liebesroman. Sie schreibt über die Liebe. Sie schreibt darüber, wie sehr sich die Charaktere lieben und damit wird die Liebe Teil der Geschichte. Trotz all der Geschehnisse ist es ein langsames Buch und zwar, weil es der Autorin wichtig ist zu beschreiben, warum Dinge wie passieren, warum die Charaktere die Dinge tun und sagen, sie sie es tun. Man könnte meinen, Pulley verlangsamt das Tempo absichtlich, um dem Leser Zeit zu geben, damit ihm keine noch so kleine Emotion der einzelnen Charaktere entgeht. Ich war fasziniert von der Geschichte, von der Tatsache, dass die Charaktere liebevoll, aber kompliziert sind wie Missouri Kite, ein Mann, der so widersprüchlich und vom Leben geschädigt ist, zerbrechlich, aber auch brutal, sowohl führsorglich, als auch zurückgezogen. Und mir gefiel, dass die Frauen stark sind und Entscheidungsfreiheit haben. Die Autorin unternimmt keinen Versuch, die verheerenden Auswirkungen von Traumata zu verbergen oder zu trivialisieren, und ich war untröstlich über die von Liebe und Pflicht erzwungenen Entscheidungen, die die Charaktere treffen mussten.

Foto: Larry D. Moore

Natasha Pulley (geboren am 4. Dezember 1988 in Cambridge) ist eine britische Autorin. Am bekanntesten ist ihr Debütroman The Watchmaker of Filigree Street, zu Deutsch Der Uhrmacher in der Filigree Street, der mit dem Betty Trask Award ausgezeichnet wurde.

 

 

 

1898 erwacht Joe Tournier ohne jegliche Erinnerungen am Bahnhof Gare du Roi in Londres. Die Welt steht Kopf: England ist Französisch, und Joe wird in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Nur wenig später, als er wieder in Freiheit ist, trifft eine rätselhafte Postkarte bei ihm ein, die 90 Jahre zu ihm unterwegs war.
Auf der Postkarte ist ein Leuchtturm auf einer Insel in den Äußeren Hebriden mit dem Namen Eilean Mor abgebildet, auf der Rückseite steht ein kurzer Text: »Liebster Joe, komm nach Hause, wenn du dich erinnerst. M.«  Was hat es mit dem Leuchtturm auf sich und wie kann ein Mann mittleren Alters aus einer 90jährigen Vergangenheit heraus vermisst werden? Und wer ist M.? Joe macht sich schließlich auf die nicht ungefährliche Reise nach Schottland, um den Leuchtturm zu suchen und findet stattdessen einen Weg in die Vergangenheit. Unversehens gerät er in die Turbulenzen der großen Schlachten zwischen England und Frankreich, die lange vor seiner Geburt entschieden wurden. Schnell wird klar, dass jeder Schritt in die Vergangenheit auch seine Zukunft beeinflusst.

Hobbit Presse Klett Cotta – gebunden – 544 Seiten – 25,00 € – ISBN 978-3-628-98636-5