Diesen Hype um sein Buch seitens der Presse hat nicht einmal Namensvetter Harry Potter geschafft. Zwar waren vielleicht die Verkaufszahlen am ersten Tag höher, aber, die wie es scheint ungeteilte Aufmerksamkeit der gesamten weltweiten Presse, gilt »Reserve«. Seit den ersten Indiskretionen und besonders seit dem angeblichen Fehlstart in Spanien halten die Erinnerungen von Prinz Harry die Welt in Atem. Was aber bleibt, wenn man die Angriffe auf Familie, Institution (Krone, Anm. der Rezensentin) und Presse ausblendet? Und ich frage mich, warum hat sich Prince Harry einen Ghostwriter ins Boot geholt, noch dazu einen amerikanischen, wo er doch schon »als Schüler gebildet genug war«, zu beurteilen, dass ein Artikel über ihn »Analphabetismus vom Feinsten» war. Verstehen Sie mich bitte richtig, für mich ist J.R. Moehringer, Pulitzerpreisträger, über jeden Zweifel erhaben und er hat – wie schon bei anderen Lebenserinnerungen – sein Bestes gegeben und den Büchern zum Erfolg verholfen. Aber seine anderen Klienten sind Amerikaner. Die ersten rund 50 Seiten halten mich kaum bei der Stange. Hier erzählt mir nicht Prince Harry seine Geschichte, seine Version, seine Wahrheit. Hier erzählt jemand, der sich vorstellt, wie Prinz Harry spricht und erzählt. Dem Ich-Erzähler fehlt die Authentizität, die ihn glaubhaft, glaubwürdig und interessant machen würde. Sicher eine schwierige Aufgabe für den Ghostwriter aus einem anderen gesellschaftlichen und kulturellen Umfeld. Zudem ließ der Verlag durchsickern, dass das Manuskript „entamerikanisiert“ wurde, schließlich sei der Prinz Brite und solle britisch klingen. Da ich die englische Version noch nicht lesen konnte, kann ich nicht beurteilen, inwieweit die Übersetzung ins Deutsche der Originalversion gerecht wird. Das Bild des Opfers, das Prince Harry von sich zeichnet, verblasst im Laufe der Lektüre und ein wenig schmeichelhaftes Bild gewinnt an Kontur. Sympathisch kommt er nicht rüber, auch nicht unterhaltsam, witzig oder geistreich. Dazu sind die Kapitel mit 2 – 3 Seiten zu kurz, vermitteln eher den Eindruck von Tagebuchaufzeichnungen und kratzen immer nur an der Oberfläche. Die Geschichte zieht sich dahin und ich bin dankbar, dass das ursprüngliche Manuskript von 800 auf 500 Seiten verkürzt wurde. Er hat sich für die vorliegende Version entschieden, die allein gilt es zu bewerten.
ANMERKUNGEN: Jeden Tag kommen neue Einzelheiten zutage, die von Presse, Adelsexperten oder auch den Fans wiederlegt werden: Harry erinnert sich, dass Meghan beim ersten Date ein schwarzes Sweatshirt, Jeans und Pumps trug, während Meghan anlässlich der Ausstellung ihres Brautkleides auf Schloss Windsor dem TV-Team erzählte, dass der blaue Faden, der in den Schleier eingearbeitet worden war und deutete auf den Faden, aus dem Kleid stamme, das sie zum ersten Date mit Harry getragen habe. Oops, nun das ist etwas, das die beiden Liebenden klären sollen. Anders bei der Erinnerung, er, Harry, hätte keine Ahnung von Mode und würde 1 – 2-mal im Jahr im Sale bei TK Maxx einkaufen. Ungeachtet der kostenlosen Werbung, sah sich TK Maxx in der Pflicht, die Aussage richtig zu stellen: wir bieten keinen Sale an. Und die Xbox? Die bekam Harry als letztes Geschenk seiner kurz zuvor verstorbenen Mutter zum Geburtstag 1997. Ernsthaft Microsoft? Wieso hat der Bengel die Xbox schon 4 Jahre vor der Markteinführung 2001 bekommen? Hätte, hätte… Hätte Harry seinem Vater das Manuskript vorher zum Lesen gegeben, hätte dieser ihn vermutlich darauf aufmerksam gemacht, dass er – Prinz Harry – nicht von King Henry von Lancaster abstamme, sondern direkter Nachfahre von King David ist und deshalb die männlichen Nachfahren beschnitten werden, was seine Mutter, Princess Diana abgeschafft haben will und dass die 3 Prinzen – Charles, William und Harry – mit der Privatsekretärin in Klosters, Schweiz, zum Skilaufen waren und nicht wie in den Memoiren zu lesen ist, Harry schwärmerisch von einem Frühlingstag in Eton erzählt, als ihn der „gefürchtete Anruf“ ereilte und ihm mitgeteilt wurde, dass seine Uroma verstorben sei. Schriftsteller wie Ken Follet haben ein ganzes Team, das sich mit Fakten-Checks beschäftigt. Gleich auf der ersten Seite ein beeindruckendes Beispiel für Prince Harrys Wahrnehmung: »Das Wetter war typisch für April. Nicht mehr Winter, aber auch noch kein Frühling. Die Bäume kahl, die Luft schon mild. Der Himmel grau, doch die Tulpen kamen. Das Licht war fahl, und trotzdem leuchtete der indigoblaue See, der sich durch den Park wand«. Experimenteller Realismus? Poesie? In den 3 Jahren, die ich in London lebte, war es mir nicht einmal vergönnt, einen sich durch den Park windenden, indigoblauen See zu sehen. In Kapitel 25 ist Schluss mit Pille-Palle. Prince Harry erzählt, dass er und William mit den 4 Söhnen von Prince Charles Freunden Hugh und Emilie in Norfolk spielten. Verstecken, Fahnenraub, egal, alles war nur ein Vorwand für wilde Raufereien »und egal, worum es ging, es gab keinen Gewinner, denn es gab keine Regeln… – in der Liebe, im Krieg und im Landhaus von Hugh und Emilie war alles erlaubt«. Das ist schon irritierend, aber die weitere Entwicklung von gegenseitigem Beschuss mit Römischen Lichtern, Raketen aus Golfballröhren, nächtliche Kämpfe, bei denen Daunenjacken und Wollhandschuhe der einzige Schutz gegen die Geschosse waren, bis hin zur Entdeckung von Luftgewehren und Schrotflinten, mit denen aufeinander geschossen wurde, empfinde ich befremdlich. Die letzte beschriebene Heldentat in diesem Kapitel erzählt, wie einer der Jungen in eine Baugrube fiel und ziemliches Glück hatte, den Sturz zu überleben, worüber sich die 5 anderen oben am Grubenrand einig waren und dann die gute Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen ließen, sondern Böller, dicke Dinger, zündeten und sie in die Grube warfen. Ist das selbstreflektiert? Und langsam verflüchtigt sich das Bild vom Opfer und ein anderes, weniger schmeichelhaftes Bild tritt hervor. Das Bild eines wütenden, zornigen Mannes. Es wird immer deutlicher, dass es hier um seine Mutter, Princess Diana, und ihn geht. Darum, dass sie ihn verlassen und allein gelassen hat. Wahrscheinlich wäre er wieder einmal mit einem blauen Auge davongekommen, wäre seine Großmutter noch in Amt und Würden. So aber treffen die Vorwürfe und Anfeindungen nicht mehr nur den Vater, den ewigen Thronfolger, von vielen belächelt als derjenige, der mit den Blumen spricht, sondern es ist ein Angriff auf seine Majestät, King Charles III., der insgesamt ca. 70 Nationen repräsentiert, weltliches Oberhaupt der Anglikanischen Kirche sowie Oberbefehlshaber der britischen Streitkräfte ist. Angebliche 7 Jahre Therapie, eine Ehefrau und 2 Kinder haben es offensichtlich nicht geschafft, dass Prince Harry den Tod seiner Mutter verarbeitet hat und sich selbst nicht mehr nur als Reserve sieht, ein Wort, welches gefühlt auf jeder Seite mindestens einmal bemüht wird. Okay, wir Zweitgeborenen haben es nicht leicht, aber fragen Sie mal einen Drittgeborenen. Dieses »Reserve sein« ist vielleicht im Augenblick das einzige Bindeglied zur Königsfamilie und der Grund, warum Menschen sich die Mühe machen, sein Buch zu kaufen und zu lesen. Und egal wie vermeintlich offensiv Prince Harry mit den nicht verstummenden Gerüchten, King Charles wäre nicht sein leiblicher Vater, umgeht, ist diese »Reserve-Rolle« sein Netz und doppelter Boden.
Prinz Harry, Herzog von Sussex, ist Ehemann, Vater, Veteran der britischen Streitkräfte und engagiert sich in der humanitären Hilfe, für psychische Gesundheit und Umweltschutz. Er lebt mit seiner Familie und drei Hunden im kalifornischen Santa Barbara.
Penguin Verlag – gebunden – 512 Seiten – 26 € – ISBN 978-332-860292-7