Nachmittage, Ferdinand von Schirach

Die kurzen Geschichten in dem neuen Band »Nachmittage« von Ferdinand von Schirach sind leise Erzählungen. Auch wenn sie zum Teil von einer tiefen Melancholie geprägt sind, wirken sie weder mutlos noch machen sie den Leser traurig. Es sind Geschichten aus dem Leben, deren Atmosphäre fast greifbar ist und von denen man nicht genug bekommt. So musste ich das Buch, das ich am Abend begann, lesen bis zum Ende und dabei spielte es keine Rolle, dass es tiefe Nacht geworden war.

Es ist sehr tröstlich, dass es noch Autoren gibt, die mit Worten eine gewisse Magie erschaffen können. Und trotz der unglaublichen Beobachtungen, die einen an unserer jetzigen Welt fast verzweifeln lassen, gibt Ferdinand von Schirach Hoffnung mit.

Berlin. 21.4.2021

Autorenfoto: Copyright ® Stephan Rabold

Der SPIEGEL nannte Ferdinand von Schirach einen »großartigen Erzähler«, die New York Times einen »außergewöhnlichen Stilisten«, der Independent verglich ihn mit Kafka und Kleist, der Daily Telegraph schrieb, er sei »eine der markantesten Stimmen der europäischen Literatur«. Seine Erzählungsbände und Romane wurden vielfach verfilmt und zu millionenfach verkauften internationalen Bestsellern. Sie erschienen in mehr als vierzig Ländern. Die Theaterstücke Terror und Gott zählen zu den erfolgreichsten Dramen unserer Zeit, und Essaybände wie Die Würde des Menschen ist antastbar sowie die Gespräche mit Alexander Kluge Die Herzlichkeit der Vernunft und Trotzdem standen monatelang auf den deutschen Bestsellerlisten.
Ferdinand von Schirach wurde vielfach mit Literaturpreisen ausgezeichnet. Er lebt in Berlin.
Zuletzt erschienen von ihm u.a. der Essayband »Jeder Mensch« sowie die Erzählsammlung »Kaffee und Zigaretten«.

Auch wenn es um verpasste Momente und Chancen geht, egal ob von Menschen oder der Gesellschaft, ist in keiner der Erzählungen ein Vorwurf, keine bissige Anklage. Ein Autor beobachtet, erzählt, vielleicht von sich, vielleicht fiktiv, doch immer am Puls der menschlichen Verrücktheit. Ob es das widerliche Zelebrieren eines schon seit Jahren verbotenen Ortolane-Essens ist, das der Dekadenz einer römischen Orgie gleichkommt oder die Feststellung einer Richterin, dass wir eine ganze Generation junger Menschen verlieren, weil Schlagwörter, Hashtags ausreichen, um Rechtssystem aus den Angeln zu heben. Ob es die Verbitterung einer verlassenen Frau ist, deren Schlussfolgerungen nur noch ihrem Groll geschuldet sind oder die Ambivalenz von Gut und Böse an dem Beispiel des Kinobesitzers Meros.

Nie kann man definitiv sagen, ob es wahr oder erdichtet ist. Man schwankt zwischen der Möglichkeit einer sehr privaten Geschichte oder einer geschickt in die Ichform verpackten Beobachtung. Aber am Ende tut es nichts zur Sache und der Autor hat sein Recht auf Intimität, solange wir etwas mitnehmen können. Und noch nie so sehr, wie in diesem Buch von Ferdinand von Schirach, hatte ich als Leser das Gefühl etwas Trost und Hoffnung in diesen unwirklichen Zeiten zu bekommen.

Denn es ist in dieser Welt, wie der Autor sein Buch mit den letzten zwei Sätzen beendet: »Unter einer Ulme setze ich mich im Park auf eine Steinmauer. Und überall ist Leben, überall.«

Nachmittage, Ferdinand von Schirach, Luchterhand, gebundenes Buch, Seiten 175, ISBN: 978-3-630-87723-5, Euro 22,00. Erschienen am 24. August 2022.