Man kann eine Familiengeschichte so oder so erzählen. Oder wie Martin Beyer! Ihm ist gelungen, das Leben der Helene K. in einer packenden, aufwühlenden Geschichte zu erzählen. Beruhend auf persönlichen Gesprächen mit der Künstlerin Irene Wedell zeichnet der Autor einfühlsam und respektvoll das Bild der authentische Protagonistin Helene Klasing. Eine vielseitig talentierte Persönlichkeit, die in der Nachkriegszeit heranwächst. Eine Zeit, die durch ständigen Wandel bestimmt wird: wirtschaftliche Veränderungen und Besserungen, gesellschaftspolitische Bestrebungen, die in der 68er Bewegung ihre vorläufige Hochzeit erleben. Helene, mittlerweile Studentin und mit Harry einem Studenten auf Lehramt liiert, der zum inneren Kreis der 68er Bewegung gehört, erkennt schnell, dass diese Bewegung nicht ihre Bewegung ist. Sie wird weder als Frau noch Künstlerin ernst genommen und selbst Harry bezweifelt ihre intellektuellen Kapazitäten, um an den Grundsatzdiskussionen teilzunehmen.
Martin Beyer, geboren 1976 in Frankfurt am Main, lebt als freier Schriftsteller in Bamberg. Wenn er nicht an seinen Büchern arbeitet oder daraus liest, unterrichtet er Prosa im Studiengang Literarisches Schreiben und Kulturjournalismus an der Akademie Faber-Castell. Schülerinnen und Schülern hilft er, ihre Geschichten zu finden und aufzuschreiben; oder er versucht sie davon zu überzeugen, dass Poesie etwas ziemlich Großartiges und gar nicht anstrengend oder schwer zu erschließen ist. Für seine Arbeiten erhielt er zahlreiche Preise und Stipendien, 2019 war er Finalist beim Bachmannwettbewerb in Klagenfurt, 2010 erhielt er den Walter-Kempowski-Preis.
Verkrustete Strukturen lassen sich nicht einfach aufbrechen. Veränderung erfordert Mut und Stärke. Mit beidem ausgestattet, kämpft Helene für ihre Anerkennung als Frau und Künstlerin, Gleichberechtigung und Emanzipation. Dennoch sieht Helene in der Heirat mit Harry keinen Verrat an ihrem Feminismus. Mit fast 30 Jahren erfährt sie durch den Standesbeamten, dass sie ein Adoptivkind ist. Plötzlich erklären sich Familiendynamiken und Lebensrealitäten ändern sich. Sie begibt sich auf Spurensuche und muss erfahren, dass ihre leibliche Mutter sie nach der Geburt weggegeben hat und nach Amerika ausgewandert ist. Sie braucht noch Jahre, bis sie die Reise über den Ozean wagt. Und hier beginnt die zweite, die fiktive Ebene der Geschichte. Helene wird mit einer Mutter, die nichts von ihr wissen will, konfrontiert. Einzig der Sohn ihrer bereits verstorbenen Halbschwester zeigt Interesse an ihr. In ihm findet sie ein Stück Familie, die sie nie hatte. Helene, anerkannte Modeschöpferin, Malerin, Autorin, selbstbewusst, schillernd, farbig, lebensfroh und kompromisslos wird für ihren Neffen Alexander zu einer wichtigen Person in seinem Leben. Von ihr inspiriert, hinterfragt er seine bisherige Existenz.
Tante Helene, das ist Helene Klasing, Künstlerin unter Künstlern, Freigeist unter Engstirnigen und Tochter einer Mutter, die sie nach der Geburt zur Adoption freigab, um der gesellschaftlichen und familiären Ächtung zu entgehen. Doch davon weiß Helene nichts. Erst als sie Anfang der 1960er-Jahre ihren Freund Harald heiratet, erfährt sie von ihrer adeligen Abstammung. Sie muss nicht nur mit dem Gefühl, ihr ganzes Leben lang belogen worden zu sein, zurechtkommen, sondern auch mit einer Familiengeschichte, die konträr zu all dem steht, wofür sie als junge Frau kämpft. Eine Generation später reist Alexander, der früh seine Mutter, die Halbschwester Helenes, verloren hat, von New York nach Frankfurt, um das verstoßene Kind der Familie endlich näher kennenzulernen. Er begegnet einer beeindruckenden Frau und in ihrer Geschichte seinen eigenen großen Lebensfragen.
Martin Beyer: Tante Helene und das Buch der Kreise, Ullstein Verlag – gebunden – 416 Seiten – ISBN 978-355-020135-6, €23,00
Fünf Fragen an den Autor gestellt von: Angela Perez – Redaktion Eschborner Stadtmagazin an Martin Beyer zu seinem neuesten Roman: Tante Helene und das Buch der Kreise
Lieber Herr Beyer, herzlichen Glückwunsch zu Ihrem aktuellen Roman. Leser:innen sind neugierige, wissbegierige Menschen und deshalb bedanke ich mich für Ihre Antworten.
Der reale Teil Ihrer Geschichte – Helene Klasing in und um Frankfurt herum – beruht auf Gesprächen mit der Berliner Künstlerin Irene Wedell, ohne die es, wie Sie sagen, dieses Buch nicht geben würde. Zwischenzeitlich ist Irene Wedell an Demenz erkrankt. Ist es Frau Wedell vergönnt gewesen, sich gemeinsam mit Ihnen über das fertige Buch zu freuen?
Leider nein. Sie verstarb Ende 2017. Ihr Tod war für mich der Anlass, die Aufnahmen unserer Gespräche wieder anzuhören. Das hat mich sehr bewegt, und es war der Beginn meiner Reise, inspiriert von ihrem Leben den Roman zu schreiben. Doch ich konnte ihre Geschichte nicht eins zu eins umsetzen, daher spielt der Roman in Frankfurt, Offenbach und Heusenstamm, den Orten meiner Kindheit und Jugend, und nicht in Berlin. Hinzu kam die rein fiktive Gegenwartsebene um den Neffen Alexander in New York. Ich habe mich einerseits von Irene entfernt, fühlte mich ihr aber vielleicht gerade dadurch sehr nahe.
Die Frage, ob Irene Wedell mit dem Ergebnis zufrieden ist, hat Sie – so könnte ich es mir vorstellen – die ganze Zeit, in der Sie an der Geschichte gearbeitet haben, begleitet.
Das ist ganz richtig. Ich habe während des Schreibens und jetzt, da das Buch veröffentlich ist, immer daran gedacht und denke immer wieder daran: Wäre Irene damit zufrieden? Mittlerweile habe ich durch das Buch auch Kontakt zu der Familie und der Galeristin gefunden, die sich um ihren Nachlass, um ihre Kunstwerke kümmern. Sie haben mir etwas sehr Schönes gesagt, nämlich, dass Irene keine Kopie ihrer selbst braucht. Ich hoffe, dass das stimmt und Irenes Segen auf dem Buch ruht.
Kennen Sie die Angst vor der ersten Seite?
Dafür habe ich in meiner Familie keine Zeit! Aber im Ernst: Sobald ich weiß, wie eine Geschichte erzählt werden kann, geht es eigentlich. Aber bis es soweit ist, kann es sehr lange dauern, bei „Tante Helene und das Buch der Kreise“ viele Jahre. Ich habe also eher Angst davor, keinen Weg zu finden für etwas, das ich gerne erzählen würde.
Eine Geschichte begleitet den Autor über eine gewisse Zeit: Idee, Recherche, Schreiben, Veröffentlichung, Bewerbung, Lesungen… Haben Sie ein Ritual diese Phase abzuschließen, sozusagen das Buch ins Regal zu stellen?
Ja, ich habe so ein Arbeitsregal mit den Büchern, Notizen, Filmen, die ich für das aktuelle Vorhaben benötige. Das leere ich dann und schaffe Platz für Neues. Das steht aktuell an, aber ich tue mir noch ein wenig schwer damit, „Tante Helene“ loszulassen.
Nach dem Buch ist vor dem Buch. Ihr letzter Roman „Und ich war da“ erschien im Herbst 2019. Müssen sich Ihre Leser:innen bis 2025 gedulden oder gibt es bereits Ideen für eine neue Geschichte?
Es gibt eine neue Idee und eigentlich auch schon einen Plan. Wenn ich jetzt dieses Regal aufräume, könnte es eigentlich losgehen. Eine Veröffentlichung 2024 wäre schön. Vorher ist es bei meinem Schreibtempo eher unwahrscheinlich.