Uwe M. Schneedes: „Paula Modersohn-Becker. Die Malerin, die in die Moderne aufbrach“

Gastrezension: Dr. Ulrike Bolte

In seiner umfassenden Monografie über Paula Modersohn-Becker legt der Kunsthistoriker Uwe Schneede sein Gewicht auf ihre Stellung als Überwinderin des Impressionismus und Vorhut der expressionistischen Avantgarde. Zusammenfassend beschreibt Schneede Paula Modersohn-Becker als „Einzelgängerin und zugleich als Teil des Pariser Aufbruchs in die Moderne, die beharrlich ihren Weg ging, sich nicht um ein mögliches Publikum scherte.“ Sie suchte „formale inhaltliche Möglichkeiten für eine eigengesetzliche, stets figurative Malerei, erprobte stilistisch die malerischen Mittel ihrer Zeit und bildete eine eigene Ikonographie heraus“ und brach damit eigensinnig in die Moderne auf. Die gut lesbare Monographie verquickt geschickt Paula Modersohn-Beckers Leben und Werk mit ihrer Zeit und den künstlerischen Strömungen. Äußerst lesenswert und eine gute Ergänzung zur Ausstellung über Paula Modersohn-Becker in der Frankfurter Schirn, deren Katalog hier leider nicht mit berücksichtigt werden konnte.

Uwe Schneede
Foto Ottmar v. Poschinger

Kunsthistoriker Uwe M. Schneede war Professor in München und Direktor an der Hamburger Kunsthalle und gilt als einer der profiliertesten Kenner von Paula Modersohn-Beckers Leben und Werk, das er 2017 in einer Aufsehen erregenden Ausstellung im Bucerius Kunst Forum Hamburg der Öffentlichkeit präsentierte.

Nach verschiedenen meist teuren Privatakademien – Frauen konnten erst 1919 an die staatlichen Kunstakademien wechseln – findet sie in der Künstlerkolonie von Worpswede ihre Anregungen in den Porträts der Armenhausbewohner und in Kinderbildern. In der Silvesternacht vom 31.12.1900 bei Anbruch eines neuen Jahrhunderts fährt sie allein auf sich gestellt zum 1. Mal nach Paris (damals für Frauen außergewöhnlich), sucht Inspiration bei alten und zeitgenössischen Malern in den Museen, Galerien und Ateliers. Hauptsächlich besucht sie die wenigen für Frauen zugänglichen Akademien wie Colarossi. Im Laufe ihres kurzen Lebens  – sie stirbt 1907 mit 31 nach Geburt ihrer Tochter – zieht es sie immer wieder in die damalige Kunstmetropole, während ihr Mann Otto Modersohn meist in Worpswede bleibt. Sie findet ihre Vorbilder in den Mumienporträts von El Fayum, in der häufig rituellen Anordnung ihrer Gegenstände bei Gauguin, Cézanne, van Gogh, den Fauves und Rousseau – lange bevor diese durch engagierte Galeristen wie Cassirer, Thannhauser, Walden oder Flechtheim, Händler und Sammler wie Osthaus in Deutschland bekannt wurden und der Moderne den Weg ebneten. Anhand von vielen erstmals publizierten Gemälden und Zitaten aus Briefen und Tagebüchern erkundet Schneede Modersohn-Beckers Suche nach ganz eigenständigen Bildvorstellungen in Porträts, Landschaften, Gegenständen auf der Suche nach der „groben Einfachheit der Form“.

Der Weg zur Abstraktion blieb ihr jedoch versperrt, sie blieb immer dem Figürlichen verhaftet, auch wenn sie über das Realistische hinaus ging durch ihren spontanen Farbauftrag. Sie lehnte den glatten Firnis ab als Inbegriff der verachteten akademischen Tradition und verschrieb sich der porösen, reliefartigen Oberfläche. Zurück genommene Farbigkeit des Hintergrunds ohne belebende Komplementärkontraste bewirkt eine Verunklärung des Raums und statt Tiefenwirkung eine flächige Malweise. Das schafft Platz für hieratische Gesten und symbolhaft-rituelle Attribute.

Dabei wählt Schneede nicht einen genderspezifischen Blick – wie er derzeit in der laufenden Ausstellung in der Schirn vermittelt wird – sondern einen humanistischen. So seien zwar auf ihren hochformatigen Bildern Ausschnitte mit aufstrebenden Birken als  Ideal und Anspielung auf „männlich kühne“ und „moderne“ Frauen zu finden. Doch letztlich beschäftigte sie das Naturhafte in einer paradiesischen Umgebung, das „Werdende“ besonders in den Kinderbildern, für die Modersohn-Becker bekannt ist. Häufig sind sie frontal nah an den Betrachter heran gerückt, auf das Wesentliche reduziert oder in Untersicht, Augen, Mund und Nase nur angedeutet – ein „regungsloses Innehalten in einer archetypischen Form: in sich ruhend und verschlossen, als ob ihnen das Leben noch nicht aufgegangen sei“. In den neueren Kinderbildnissen (1904/5) sind die Figuren stärker ausgeprägt mit Blickkontakt oder gesenktem Blick, was Distanz bedeutet und stattdessen häufiger auf einen ikonologischen Hintergrund deutet. Auf ihrer 2. Parisreise 1903 setzte sich Modersohn-Becker auf Anraten von Rilke und seiner Frau Clara Westhoff-Rilke mit dem „künstlerischen in der  Kunst“ auseinander, mit dem Unvollendeten und Skizzenhaften wie in den „Formenträumen“ Rodins. (Selbst-) Porträts werden oft flächig und frontal angelegt mit dem typisierten Ausdruck von Masken, die die damalige Begeisterung für afrikanische Skulpturen widerspiegelten. Ihre Entindividualisierung durch das Verschwimmen von Iris und Pupille und der konstruktiven Grundform verzichtet auf jede Ähnlichkeit. Ihr Kollege Heinrich Vogeler bestätigte ihren bekannten „Liegenden Mutter und Kind-Figuren“ in verschiedenen Versionen ein „Urbild der Mutterschaft “ zu sein „erregend durch Monumentalität, gestaltet durch Schlichtheit“. Die gerade laufende Ausstellung in der Schirn wird eröffnet durch Modersohn-Beckers „Selbstbildnis als Akt am 6. Hochzeitstag, schwanger“, was sie zu dem Zeitpunkt nicht war. Es war das erste weibliche Bildnis als Akt in diesem Zustand in der Kunstgeschichte. Selbstbildnisse können der Selbstüberprüfung des Künstlers dienen, können aber auch eigene (un-) bewusste Wünsche wecken. Zeichnet sich hier die eigene angepasste Konvention an die familiären und gesellschaftlichen Umstände ab, der sie glaubt, Folge leisten zu müssen wie sie es ein Jahr später tatsächlich tut mit dieser Selbstüberhöhung? Die häufig angeschnittenen Figuren im Hochformat bereiten nach Schneede die Autonomisierung des Bildes in der Moderne vor: sie sind nicht verschattet, sondern dunkelhäutig, was Modersohn-Becker bei Gauguin gesehen hat. Daneben sind ritualisierte Gesten und Gegenstände wie Früchte und Pflanzen in der Bildachse angeordnet, die Hauptfigur steht zu ihrer Verortung auf einer Standfläche.

In nur 10 Jahren schuf sie ein Werk mit über 700 Gemälden und über 1000        Zeichnungen, die lange missverstanden wurden – so erwähnt der Dichter Rainer Maria Rilke Modersohn-Becker in seinem Buch über Worpswede kein einziges Mal. Von einem deutschen Kritiker wurde die Ausstellung ihrer frühen Bilder 1899 in Bremen verrissen. Dennoch bleibt sie für Schneede „die Malerin, die in die Moderne aufbrach“.

Ihre frühen Skizzen legen die Komposition fest und liefern Ideen für Form und Struktur ihrer Gemälde. Hier zeigte sich schon eine charakteristische Grundform auf ihre manchmal gesichtslosen Gestalten in einer grau-braunen Tonigkeit sowie die Reduktion auf nur notwendige Details. Dabei widersprach sie  wichtigen Strömungen in Deutschland wie der spätimpressionistischen Auflösung von Liebermann, dem Naturalismus eines Leibl oder dem Symbolismus von Böcklin. Modersohn-Becker lehnte die Lokalfarbigkeit – die natürlichen Farben der Gegenstände – ab: sie sah das farbige „Leuchten ohne Sonne“ angewandt in der „bande noire“ mit Künstlern wie Charles Cottet, Lucien Simon; Jean-Pierre Laurens. Auch sei die Einsicht in die Notwendigkeit der Konstruktion „ein Pariser Fortschritt“ gewesen. Die dazu genutzten Kohlezeichnungen markierten grob Konturierung und Körperhaltung und dienten als Konzept für das Bild -„zugleich formale Einübung und bildnerische Grundlage“. Der freie, rasch hingeworfene Pinselstrich mit kräftigen Tönen der letzten Schaffensperiode mit Messer und Spachtel in mehreren Lagen übereinander verweisen auf die Steigerung des Ausdrucks als für Schneede „vollendeter Beginn einer künftigen Kunst“.

Die Ausstellung in der Schirn, Frankfurt ist bis Februar 22 geöffnet.

Uwe M. Schneede „Paula Modersohn-Becker. Die Malerin, die in die Moderne aufbrach“, München 2021 Verlag C.H.Beck ISBN 978 3 406 76045 7, € 29,95