Acht lange Jahre hat Jo Lendle seine Leserschaft auf ein neues Buch von sich warten lassen, aber es hat keine 2 Seiten gebraucht und ich bin abgetaucht in die die Geschichte „Eine Art Familie“. Nicht nur, weil sie spannender als mancher Krimi ist, sondern weil der Auto mit seiner elegant-schlanken Sprache eine atmosphärische Dichte erzeugt, die man nur genießen kann. Jo Lendle trifft scheinbar mühelos mit dezenten sprachlichen Mitteln den Ton der frühen Jahre des letzten Jahrhunderts, ohne dabei antiquiert, bemüht oder verstaubt zu wirken. Der Autor, selbst Teil der Familie seiner Romanfiguren, wahrt dennoch zu ihnen die gebotene schriftstellerische Distanz. Er urteilt nicht. Er rechnet nicht ab. Trotz des „Sicherheitsabstandes“ spürt man die Sympathie für seine Protagonisten, besonders für Alma, die eigentlich gar keine Verwandte ist, aber ihren Platz in dieser „Eine Art Familie“ hat. Es entsteht ein kulturell-humanistisch geprägtes Portrait des Bildungsbürgertums des letzten Jahrhunderts.
Jo Lendle wurde 1968 geboren und studierte Kulturwissenschaften und Literatur in Hildesheim, Montreal und Leipzig. Bei der DVA sind seine Romane »Was wir Liebe nennen« (2013), »Alles Land« (2011), »Mein letzter Versuch, die Welt zu retten« (2009) und »Die Kosmonautin« (2008) erschienen. »Eine Art Familie« ist sein erster Roman bei Penguin.
Jahrzehnte nach dem Tod des Großonkels öffnen die Hinterbliebenen von Ludwig „Lud“ Lendle die Büchse der Pandora in Form seines ideellen Nachlasses: diverse Koffer. Jeder Koffer mit einem Aufkleber „Nach meinem Tod ungeöffnet verbrennen“. Lud galt in der Familie im Gegensatz zu seinem Bruder Wil, der sich früh einer neugegründeten Partei angeschlossen hatte und auch nach Kriegsende deren Überzeugungen treu blieb, als der Gute. Umso mehr muss es die Nachgeborenen überrascht haben zu erfahren, dass die Homosexualität des vielfach geehrten Professors nicht sein einziges Geheimnis war. Ludwig Lendle hat die Entkriminalisierung der Homosexualität nicht mehr erlebt. Die Angst vor Entdeckung und damit einhergehender Verurteilung führte ihn in die innere Isolation. Heute kaum mehr vorstellbar. Der Autor nimmt die selbstgewählte Herausforderung, die Geschichte einer deutschen Familie aufzuschreiben mit Respekt und Sensibilität an.
Dank seiner außergewöhnlichen Beobachtungsgabe und seiner Fähigkeit, banalsten Dingen mit seiner Erzählkunst Bedeutung zu verleihen, verwebt Jo Lendle Dichtung und Wahrheit gekonnt zu einem glänzenden Stoff.
Man sucht sich die Zeiten nicht aus, in die man gerät und die einen prägen. So wie Lud und Alma. Lud, 1899 geboren, und sein Bruder Wilhelm verehren Bach und Hölderlin und teilen dieselben unerreichbaren Ideale. Wilhelm, der früh in die nationalsozialistische Partei eintritt, misst andere daran, Lud sich selbst, was ihn ein Leben lang mit sich hadern lässt. Alma hat ihre Eltern schon als Kind verloren. Ihr Patenonkel Lud, wenig älter als sie selbst, und seine Haushälterin werden ihr eine Art Familie werden. Als Professor für Pharmakologie erforscht Lud den Schlaf und die Frage, wie man ihn erzeugen kann. Während er die Tage an der Universität verbringt, kann Alma zu Hause nicht aufhören, an ihn zu denken. Als er beginnt, Giftgas zu erforschen, erzählt er ihr nichts davon. Sein Ringen mit den hehren Idealen wird verzweifelter. Denn da ist auch noch Gerhard, an dessen Seite er im Ersten Weltkrieg kämpfte, den er nicht aus seinem Kopf bekommt.
Vom Kaiserreich über den Nationalsozialismus und die junge DDR bis in die Bundesrepublik der Nachkriegszeit führt Jo Lendles raffiniert erzählter Roman über das Zerbrechen einer Familie, über Schuld, über Wissenschaft und ihr Verhältnis zur Welt und die feinen Unterschiede zwischen Schlaf, Narkose und Tod. Es ist die Geschichte einer deutschen Familie – zufällig seiner eigenen.
Jo Lendle: Eine Art Familie, Penguin Verlag Witsch – gebunden – 368 Seiten, ISBN 978-3-328-60194-4– 22,00 €
Interview mit Jo Lendle
Herr Lendle, acht Jahre nach der Veröffentlichung ihres letzten Romans sind Sie mit Ihrem neuen Roman „Eine Art Familie“ auf Lesereise. Wie fühlt es sich an?
Diesmal fühlt es sich wirklich besonders an. Das Schreiben ist eine einsame Tätigkeit. Mit dem Geschriebenen dann in die Welt zu treten, ist ohnehin großartig, in diesem Jahr aber erst recht. Noch im Frühjahr habe ich mit der Aussicht gehadert, dass Lesereisen wieder abgesagt werden könnten, nun bin ich besonders dankbar, dass doch alles stattfinden kann.
Die Maskenpflicht macht es ja schwer. Also man sieht kaum eine Reaktion im Publikum, Lacher und Applaus. Ohne Maske sieht man doch mehr
Ja, das ist deutlich – und noch einmal gesteigert, wenn ein guter Teil des Publikums nicht im Saal sitzt, sondern im Stream. Da fehlen natürlich die Reaktionen. Kürzlich musste ich mit einer Lesung in eine Kirche umziehen, die war dann ziemlich voll, aber alle saßen so vereinzelt, dass kein gemeinsames Echo entsteht.
Sie sind Verleger, Herausgeber der Literaturzeitschrift Akzente, Mitglied im Stiftungsrat des Literaturhauses München, Sie sind im Verlegerausschuss des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, im Kuratorium des Deutschen Literaturfonds, Juror des Deutschen Buchhandlungspreises und haben hoffentlich ein Privatleben.
Wie schafft man es, bei all diesen Ämtern einen Roman zu schreiben? Bedarf es da einer Pandemie?
Die Pandemie hatte damit nichts zu tun. Da war ich eigentlich schon fertig und habe diese Zeit eher genutzt, um nochmal zu straffen und durchzugehen und zu überarbeiten. Nein, ich schreibe einfach gerne. Das ist die ganze Antwort. Ohne das Schreiben fehlte mir etwas, dann finden sich auch die Momente dafür.
Der ehemalige Außenminister Genscher wurde gefragt, ob er überhaupt noch lesen kann und er antwortete, ich lese jeden Tag mindestens 10 Seiten und da kommt man auch, wenn man das konsequent macht, auf 3600 Seiten…
Genauso schreibe ich, nur sind es eher 10 Zeilen als 10 Seiten am Tag, aber auch da addiert es sich irgendwann. Ich habe mal ausgerechnet, dass ich im Schnitt eine Drittelseite am Tag schreibe, das kommt halbwegs hin jeden Morgen.
Sie haben nach eigenen Aussagen insgesamt 10 Jahre an dem Buch gearbeitet. Ich sehe das immer wie ein Strickmuster. Wenn man lange nicht gestrickt hat und wieder anfängt, dann sieht man das, weil es unregelmäßig ist. Ihr Buch liest sich aus einem Guss, da sind keine Brüche erkennbar gewesen
Ja, aber es hat schon auch eine Mosaikstruktur. Ich bin ohnehin nicht gut darin, über 30 Seiten eine Szene auszubreiten, aber die Arbeitsweise bringt noch mehr mit sich, dass es eher kleine Momente werden. So schreibe ich gerne. So sehe ich die Welt auch. Es sind die einzelnen Momente, die zum Beispiel Erinnerungen konstruieren. Aus denen fügt sich unser Bild aufs eigene Leben zusammen, aus solchen kleinen Szenen, Zusammenprallungen von Ereignissen, Anekdoten und so weiter. Und insofern ist es schon aus vielen Kleinigkeiten zusammengesetzt.
Viele Menschen haben sich im Lockdown hingesetzt, haben geschrieben und sind jetzt vielleicht auf der Suche nach einem Verlag und fragen sich vielleicht: Warum haben Sie das Buch nicht in dem von Ihnen geführten Verlag veröffentlicht?
Das ist ganz einfach zu beantworten: Das wäre zu leicht. Ich finde, diese Minimalhürde sollte ein Manuskript schon überspringen, irgendjemand anderen zu überzeugen. Wenn ich es selber einfach unter meine Fittiche nähme, das wäre falsch. Wäre auch falsch meinen Autorinnen und Autoren gegenüber, mich da selber noch mit reinzudrängen. Diese beiden Identitäten beißen sich sowieso ausreichend oft, da soll es wenigstens unter zwei verschiedenen Dächern passieren.
Das heißt, wir können uns das so vorstellen, sie haben, wie jeder andere Autor ein Exposé an Verlage geschickt und gehofft, dass es überzeugt?
Kein Exposé, sondern das fertige Manuskript, ja. Den Verlag hatte ich zwar schon vorher, aber überzeugen muss es trotzdem.
Kennen Sie die Angst vor der ersten Seite?
In jeder Hinsicht. Beim Schreiben kenne ich das, beim Lesen kenne ich das, aber Sie meinen natürlich beim Schreiben. Das ist für mich tatsächlich die größte Hürde überhaupt, den Eingang zu finden in eine Geschichte. Das ist der Teil, der wahrscheinlich auch hier wieder am längsten gedauert hat. Wie erzähle ich das? Mit welchem Ton, mit welcher Perspektive, mit welcher Färbung der Welt. Da probiere ich lange herum. Wobei: In diesem Fall gingen die allerersten Seiten komischerweise schnell. Danach war lange die Frage, ob und wie sich das in einem solchen Ton weitermachen lässt.
Ihre ersten Bücher sind fast im Jahresrhythmus erschienen und wenn ich das richtig verstanden habe, erhielten Sie ja mehrere Stipendien. War das in dem Zeitraum? Haben Sie da mehr Zeit oder Mittel zur Verfügung gehabt, um zu schreiben und die Ruhe und Muße gehabt?
Nee, ich habe immer Vollzeit gearbeitet während des Schreibens. Anfangs noch als Lektor und dann als Verleger. Die Stipendien gab es mal, weil ich für ein Buch etwas kompliziertere Reisen unternehmen wollte.
Die Kosmonautin…
Die Kosmonautin, da ging’s dann nach Kasachstan, da war diese Unterstützung sehr willkommen.
Arbeiten Sie denn schon an einem neuen Stoff? Können wir Leser:innen uns darauf freuen, dass wir nicht acht Jahre warten müssen?
Ich bin jetzt in der Phase, wo ich mir einfach pausenlos Geschichten erzähle und sie darauf abklopfe, ob ich Lust hätte, mit ihnen ein paar Jahre zu verbringen.
Meine letzte Frage: Wusste Ihr Großvater und/oder Ihr Vater von der Sexualität des Bruders beziehungsweise des Onkels?
Bei meinem Großvater weiß ich es tatsächlich nicht. Es könnte aber auch sein, dass das mit hineingespielt hat in die Entfremdung. Mein Vater wusste es oder ging zumindest fest davon aus. Ich weiß allerdings nicht, woher er es wusste. Ich nehme nicht an, dass er es von seinem Onkel selbst erfahren hat, womöglich hat er es sich selbst zusammengereimt. Das bleibt ein Geheimnis.
Dann waren die Familienbande doch sehr stark, dass Ihr Großvater – mit all seiner Belastung – seinen Bruder während der NS-Zeit nicht verraten hat.
Ja, das ist richtig.
Vielen Dank für das Gespräch. Das Gespräch führte anlässlich einer Lesung in Frankfurt Angelika Perez.