Jeder Mensch, Ferdinand von Schirach

Dieses Mal erschien kein Buch von Ferdinand von Schirach, es erschien ein Statement. Seine zweiunddreißig Seiten beginnt er mit den Worten der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung: „Folgende Wahrheit erachten wir als selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sein; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören.“ Am 4. Juli 1776 wurde diese unterzeichnet. In einer Zeit in der Sklaverei an der Tagesordnung war. Erst 189 Jahre später, 1965 unterzeichnete Präsident Johnson den Voting Rights Act, das Gesetz, das Schwarzen das volle Wahlrecht jenseits aller Schreibtest und formaler Hürden gab. Herr Schirach bezeichnet die Unabhängigkeitserklärung im 1776 daher zu Recht noch als Utopie, die den Menschen nicht zeigte, wie die Wirklichkeit war, sondern wie sie werden sollte!

Am 1. Dezember 2009 trat die Charta der Grundrechte der Europäischen Union in Kraft. Auch heute noch kann sie von EU-Mitgliedsstaaten systematisch verletzt werden, ohne vor dem Europäischen Gerichten eingeklagt zu werden. Wieder eine Utopie?

Und jetzt sind wir im Jahre 2021 angekommen. Digitalisierung, Globalisierung, der Klimawandel, künstliche Intelligenz, das Internet und die sozialen Medien sind ganz neue Herausforderungen. Von diesen Entwicklungen haben die Gründer, Mütter und Väter der Verfassungen, wie der Unabhängigkeitserklärung und selbst die alten Verfassungen in Europa nichts geahnt.

Dann bittet der Autor darum, sich etwas vorzustellen: Zitat: „Stellen Sie sich deshalb vor, es gäbe sechs neue Grundrechte. Grundrechte, die einfach sind, naiv und Ihnen utopisch erscheinen mögen. Aber genau darin könnte ihre Kraft liegen.“

Autorenfoto: ® Michael Mann

Der Spiegel nannte Ferdinand von Schirach einen »großartigen Erzähler«, die New York Times einen »außergewöhnlichen Stilisten«, der Independent verglich ihn mit Kafka und Kleist, der Daily Telegraph schrieb, er sei »eine der markantesten Stimmen der europäischen Literatur«. Die Erzählungsbände »Verbrechen«, »Schuld« und »Strafe« und die Romane »Der Fall Collini« und »Tabu« wurden zu millionenfach verkauften internationalen Bestsellern. Sie erschienen in mehr als vierzig Ländern. Sein Theaterstück »Terror« zählt zu den weltweit erfolgreichsten Dramen unserer Zeit. Ferdinand von Schirach wurde vielfach mit Literaturpreisen ausgezeichnet. Er lebt in Berlin. Zuletzt erschienen von ihm sein persönlichstes Buch »Kaffee und Zigaretten« sowie »Trotzdem«, ein Band mit Gesprächen mit Alexander Kluge.

 

Ferdinand von Schirach stellt diese sechs neuen Artikel für die Charta der Grundrechte der  Europäischen Union vor:

„Wir,

die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union, erachten die nachfolgenden Grundrechte,

in Ergänzung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und der Verfassungen ihrer Mitgliedsstaaten,

als selbstverständlich:

Artikel 1 – Umwelt

Jeder Mensch hat das Recht, in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben.

Artikel 2 – Digitale Selbstbestimmung

Jeder Mensch hat das Recht auf digitale Selbstbestimmung. Die Ausforschung oder Manipulation von Menschen ist verboten.

Artikel 3 – Künstliche Intelligenz

Jeder Mensch hat das Recht, dass ihn belastende Algorithmen transparent, überprüfbar und fair sind. Wesentliche Entscheidungen muss ein Mensch treffen.

Artikel 4 – Wahrheit

Jeder Mensch hat das Recht, dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen.

Artikel 5 – Globalisierung

Jeder Mensch hat das Recht, dass ihm nur solche Waren und Dienstleistungen angeboten werden, die unter Wahrung der universellen Menschenrechte hergestellt und erbracht werden.

Artikel 6 – Grundrechtsklage

Jeder Mensch kann wegen systematischer Verletzungen dieser Charta Grundrechtsklage vor den Europäischen Gerichten erheben.“

Und dann gibt der Autor allen Lesern die Möglichkeit für die neuen Rechte zu stimmen. Auf www.jeder-mensch.eu oder per QR-code in dem Buch.

Die Welt hat sich durch die Digitalisierung, Globalisierung und das Internet so rasant weiterentwickelt, dass in der Hinsicht die Gesetzeslagen nicht mehr klar sind, bzw. nie eindeutig festgelegt wurden. Und falls doch, wie in der Charta nicht einklagbar. Dadurch scheint, ein teilweiser rechtsfreier Raum entstanden zu sein. Diese sechs zusätzlichen Artikel würden die Basis bieten, genau für diese Rechte und gegen die Verletzungen dieser Rechte eine Grundrechtsklage vor den Europäischen Gerichten einzubringen. Demokratie kann nur mit festgelegten Rechten und Wahrheit Hand in Hand gehen, sonst ist es keine Demokratie mehr. Dafür brauchen wir diese neuen Artikel. Es wird höchste Zeit wieder eine Utopie zu schaffen, damit sie irgendwann Realität werden kann!

Jeder Mensch, Ferdinand von Schirach, Luchterhand, Seiten 32, gebundene Ausgabe, ISBN:978-3-630-87671-9, Euro 5,00.