Gestapelte Frauen, Patrícia Melo

Femizid: tödliche Gewalt gegen Frauen oder eine Frau aufgrund des Geschlechts (Duden)

Ein sehr kraftvoller Roman, der den alltäglichen Femizid in Brasilien zum Thema hat. Es ist keine Dokumentation, denn es erzählt die spannende Geschichte einer jungen Anwältin, die wegen eines Berichts über Frauenmorden in das Grenzgebiet Acre reist. Dort wurde ein vierzehnjähriges indigenes Mädchen auf brutalste Art und Weise gefoltert, verstümmelt, vergewaltigt und ermordet. Auf der Anklagebank sitzen drei junge angesehene Studenten aus besten Kreisen der Gesellschaft, Sprösslinge der mächtigen Herrn von Arce. Und so wird die Verhandlung trotz Beweisen und Zeugen eine Farce. Denn arme Frauen, schwarze Frauen und besonders indigene Frauen zählen in Brasilien so gut wie nichts. Und wenn man ein reicher Mann ist, dann kommt einem das korrupte System zur Hilfe.

Doch die junge Anwältin ist nicht nur Erzählerin und Beobachterin, sie selbst wurde erst vor Kurzem von ihrem Freund ins Gesicht geschlagen und als Schlampe tituliert. So bricht sie den Kontakt ab, Angst und Hass sind jetzt ihre Gefühle für Armir. Denn sie ist eine Frau mit Narben, Narben aus der Kindheit, da ihre eigene Mutter getötet wurde.

Der Roman ist hart und unverblümt geschrieben. Er berichtet von dem gelebten Recht der Männer, ihre Frauen wie Sklaven und Dreck zu behandeln. Aber es ist auch die Reise in den Urwald Brasiliens zu den indigenen Stämmen mit ihren Ritualen und zeremoniellen Drogen. Von kraftvollen Gedanken und Taten der Rache. Und der wichtigste Botschaft, die man Frauen nur mitgeben kann: Schweig nicht über eure Misere, schämt euch nicht für euer Verwundungen, sondern verbündet euch und desmaskiert die Täter.

Fotocopyright: Júlia Moraes

Patrícia Melo (*1962 in São Paulo) zählt zu den wichtigsten Stimmen der brasilianischen Gegenwartsliteratur. Nach ihrem Studium in São Paulo arbeitete sie beim Fernsehen. In ihrem sozialkritischen Werk, bestehend aus Kriminalromanen, Hörspielen, Theaterstücken und Drehbüchern, beschäftigt sie sich mit der Gewalt und Kriminalität in Brasiliens Großstädten. Melo wurde u. a. mit dem Deutschen Krimipreis und dem LiBeraturpreis ausgezeichnet, die Times kürte sie zur »führenden Schriftstellerin des Millenniums« in Lateinamerika. Sie lebt in Lugano.

Es ist eines dieser Bücher, um die man eine ganze Weile lange herumtanzt, weil man als Frau ein furchtbares Thema angehen muss. Es ist aber auch eines der Bücher, wenn man erst einmal angefangen hat, mit dem nicht mehr aufhören kann. Ein Buch, bei dem man am Ende froh ist, es gelesen zu haben!

Die Autorin, Patrícia Melo, errichtet all den zu Tode geprügelten, vergewaltigten, erschossenen, erschlagenen und erstochenen Frauen ein Mahnmal. Ein manchmal kaum zu ertragendes Mahnmal voller barbarischer Morde, voller, in einem Notizbuch dokumentierter und gestapelter toter Frauen.

Es ist die Geschichte einer emanzipierten im Leben stehenden unabhängigen Frau aus São Paulo, die glaubt, dem Schicksal ihrer eigenen Mutter entkommen zu sein. Aber nur, bis sie von ihrem intellektuellen, als Staatsanwalt arbeiteten, Freund Armir aus Eifersucht ins Gesicht geschlagen wird. Erst da wird ihr bewusst, wie fragil jede Frau für sich alleine ist und wie sehr diese Gewalttaten in ihrem Land einfach toleriert werden. Erst als sie im Grenzgebiet Arce ankommt und sich mit den Femiziden dort beschäftigt, erkennt sie, dass es jede Frau treffen kann. Jede Frau ist gefährdet, weil besonders Südamerika eine Welt der Machismo ist.

Gleichzeitig macht sich die, als in Lateinamerika führende Schriftstellerin bekannte Autorin stark für die letzten indigenen Völker des brasilianischen Urwalds. Sie kritisiert die Ausrottung dieser Menschen und besonders die Wertlosigkeit indigener Frauen. Ein ungemein starkes Buch, das Frauen zur Solidarität auffordert. Wo der Femizid in Ländern wie Afrika, Americas und Asien ein alltägliches, großes Problem ist, wird es in Europa langsam mehr. Immer mehr Ehemänner, Partner und männliche Verwandte töten Frauen und Mädchen.

Gemäß einer Studie der UN von 2017 waren es insgesamt 87.000 Frauen weltweit, die getötet wurden. 50.000 davon von ihren Partnern und Familienangehörigen. Man muss diese Zahl einmal ins Verhältnis setzen. Bei der bisherigen Corona-Pandemie starben in Deutschland etwa 65.000 Menschen. 50.000 Frauen werden jährlich von ihren Ehemänner und männlichen Verwandten getötet. Man könnte annehmen, dies sei ein Unding in der modernen Welt, in der wir leben. Scheinbar gibt es noch viel zu tun. Und das Buch von Patrícia Melo trifft den Kern der Sache.

Großartige Literatur, denn es ist eine hochspannende Geschichte, die dabei voller Fakten aber auch Träume, Hoffnungen und Botschaften ist.

Gestapelte Frauen, Patrícia Melo, Unionsverlag, gebundenes Buch, Seiten 256, ISBN 978-3-293-00568-6, Euro 22,00 Euro.