„Warhol. Ein Leben als Kunst – Die Biographie“ von Blake Gropnik

Warhol von Blake Gopnik

Gastbeitrag von Dr. Ulrike Bolte

Bei der akribischen Recherche zu „Warhol“ benutzte Blake Gropnik Interviews mit über 260 Liebhabern, Freunden, Kollegen und Bekannten des Künstlers und die Einsichtnahme in ungefähr 100 000 Zeitdokumente wie Briefe, Tagebücher, Inventare, Nachlässe, Mitschriften, Audio- und Videoaufnahmen von Gesprächen sowie altes Filmmaterial. Innerhalb von sieben Jahren forschte und schrieb der Autor in zahlreichen Archiven, Sammlungen und Forschungseinrichtungen in ganz USA. Gropnik erhielt für dieses Werk den renommieren Pulitzer Preis.

Blake Gopnik
Foto: Privat

Der 1963 geborene Blake Gopnik zählt zu den führenden Kunstkritikern Nordamerikas. Er promovierte in Kunstgeschichte in Oxford und schrieb über Kunst und Design in „Newsweek“, bei der „Washington Post“ leitete er das Ressort Kunst und schreibt regelmäßig in der „New York Times“. 2015 Fellow am Leon Levy Center for Biography an der City University of New York, war er 2017 Cullman Center Fellow in residence an der New York Public Library.

Andy Warhol wächst als Sohn Karpato-Ruthenischer Einwanderer in ärmlichen Verhältnissen in einem Vorort von Pittsburgh auf. Nachdem sein Vater nach Amerika emigriert war, holte er 1921 seine Frau und die Kinder nach. Volkstümliche Elemente tauchen bereits in Warhols Frühwerk immer wieder auf, er ist vielleicht als Ruthene gerade dazu prädestiniert, wie mit seinen Campbell Suppendosen eine durch und durch amerikanische Kunst zu schaffen: so sagt er „Ich fühle mich immer als Amerikaner zu 100 %“. Als Außenseiter konnte Warhol den Amerikanern ihre eigene Kultur erklären und formte sie zugleich aktiv um. Von 1945 – 49 war Warhol Werkstudent am Carnegie Institute of Technology in Pittsburgh, in den Ferien arbeitet er für ein Kaufhaus. In diese Zeit fällt sein erstes abstraktes Bild: ein weißes Blatt mit einem einzigen blutroten Farbklecks – eine Auseinandersetzung und Hommage an die damals herrschenden abstrakten Expressionisten wie dem Dripping von Jackson Pollock. Auch eine Vorwegnahme von Samen und Urin, die später in Warhols Gemälden als Materialien eingesetzt werden, findet sich bereits. Nach Abschluss seines Studiums zieht Warhol nach New York, wo er als Werbegrafiker für „Vogue“ und „Harper’s Bazaar“ arbeitet und Schaufensterdekorationen gestaltet und 1952 seine erste Einzelausstellung in der Hugo Gallery in New York erhält.

In dieser Zeit entwickelt Warhol seine berühmte Technik der „blotted lines“, bei der die Striche einer konventionellen Zeichnung in einer Reihe von Punkten und Strichen über das Papier verstreut werden, die die Konturen des Gegenstandes abstecken wie mit grobem, leicht verfilztem Faden, was der Illustrator Ben Shan berühmt gemacht hat. Dabei wird die ursprüngliche Zeichnung durchgepaust und so zum fertigen Kunstwerk: im fertigen Blotbild wird die ursprüngliche Zeichnung mit der sauberen Konturlinie in ihre Einzelteile zerlegt – es lässt sich kaum eine Kontur nachverfolgen. Der Blot wirkt distanziert und mechanisch wie ein altes Bild, das viele Male kopiert und gedruckt wurde und dessen Linien sich auflösen.

Ein weiteres Charakteristikum sind die Faszination für die Massenproduktion und das Konzept des Künstlers als Maschine, die in Warhols späterem Werk eine Rolle spielen sollten. Dabei hat die handwerkliche Arbeit, die  den späteren Pop-Art-Siebdrucken von Suppendosen, Brilloboxen, Montedosen oder Colaflaschen – Konsumobjekte der amerikanischen Massenkultur zu Grunde liegt, bereits eine nicht zu unterschätzende Rolle trotz der seriellen maschinellen Produktion. Bei der Präsentation von Schaufenstern sollte – das war Warhols Idee – die eigentliche Ware ausgespart werden, solange an ihrer Stelle attraktive Kunst zu sehen werde. In einer Einführung einer Werbestrategie hieß es „Je realistischer die Darstellung, desto mehr wird die breite Masse angesprochen“. Das Lebensgefühl des „camp“ spiegelte sich auch in den Schaufenstern der großen Konsumtempel, deren Look der Zeit nach der Jahrhundertwende mit Bugholzstühlen und Tiffanylampen, Oscar Wilde, Jugendstil und Federboas entsprach. „Camp“ beinhaltete „die Anziehungskraft gegenüber dem Bizarren, Unnatürlichen, Künstlichen und Ungeheuerlichen“, die jeden betreffen konnte. Dennoch herrscht bei Warhol immer eine gewisse Distanz oder Kritik, die immer wieder für Überraschung sorgt.

Die Schraffuren, Tropfen und wahllosen Korrekturen in Warhols neuartigen Pop-Art-Bildern wirken zufällig im Gegensatz zu der Veranschaulichung ihres Entstehens bei den Abstrakten Expressionisten. Kritiker bezeichneten Warhols Durcheinander als „ultimatives Nicht-Geschehen“ mit den Zufallsaktionen wie bei John Cage. Strukturierte Oberflächen Warhols finden sich in den Arbeiten seiner neuen Idole Jasper Johns und Robert Rauschenberg. „Kunstvolle“ Farbflecken auf seinen Kopien von Werbeanzeigen sind die getreue Wiedergabe von Papierfetzen, die auf den verwendeten Zeitungsausschnitten klebten. Ein Kurator sagte: „Warhols Pop-Art hat ihre Wurzeln in einer Vielzahl von Künstlern, Komponisten und Choreographen, die sich dem Zufall verschrieben, die das Chaos der Welt, das sie empfinden, am besten widerspiegeln.“ Die neue Kunstform vermenschliche die Banalität und finde Kunst im Alltäglichen. Vielleicht hat Warhol den Begriff „Pop-Art“, der in England geprägt wurde und auf den Einfluss der Populärkultur auf die jüngste Generation von Künstlern zielte, erstmals in einer Zeitschrift gesehen. Dabei wollte Warhol  die Unterschiede zwischen Vorlage und Werk möglichst auslöschen, wobei er seine Tropfen löschte, um „saubere“ Gemälde zu erhalten, die dem „amerikanischen Konsumismus“ frönten. Für seine Ziele entwickelt er eine Technik weiter: den Siebdruck, dessen Abbildungen von Marilyn Monroe, Liz Taylor, der trauernden Jackie Kennedy, aber auch Goethe in der Campagna, Lenin oder die Selbstporträts  heute zu den Ikonen der Kunstgeschichte gehören und entsprechend mit Millionen auf dem Kunstmarkt gehandelt werden.

Sie führten auch zu einer Demokratisierung der Kunst, wie Warhol in einem Interview kommentiert: “ Mechanische Mittel sind zeitgemäß, und mit ihnen kann ich mehr Kunst zu mehr Menschen bringen. Kunst sollte für alle verfügbar sein. Mit Siebdruck arbeiten ist genauso ehrlich wie alle anderen Methoden.“ Ein Autor schrieb in den 1960ern: „Der Siebdruck ist der einzige wahrhafte amerikanische Beitrag auf dem Gebiet der bildenden Kunst, der in diesem Land von amerikanischen Künstlern entdeckt und weiterentwickelt wurde“ – paradoxerweise von einem Immigranten, dem die Zugehörigkeit zur amerikanischen Identität alles bedeutete. Immerhin suchte auch hier – nach den Suppendosen – in den Arbeitsschritten hochkomplexes Kunsthandwerk seine Augenhöhe mit der Avantgardekunst. Als Vorlage für seine Schablonen benutzte Warhol Fotografien, was nach Meinung der National Serigraphy Society  die Siebdrucke von der Definition des „Originaldrucks“ ausschloss und deren ästhetischen Wert verminderte. Doch Warhol druckte jeden Siebdruck einzeln auf Leinwand mit einer Oberflächenstruktur, die an Pinselstriche erinnerte und seine Werke zur Malerei erhob, die immer noch den höchsten Rang einnahm.

In  Warhols „silver factory“, einer mit Alufolie ausgekleideten Fabrikhalle und Atelier, trafen sich Homosexuelle, Künstler, Filmer, Studierende, Schauspieler, Dichter, eine Gruppe aus Kreativen, Neugierigen und Experimentierfreudigen mit vielen Ideen, Einfällen und Anregungen, die produktiv umgesetzt wurden. Wie kein anderer Hotspot verkörperte sie das Lebensgefühl und den Zeitgeist der frühen 60er Jahre. Als Anziehungspunkt der umtriebigen Kunstszene reagierte sie auf die Entwicklung aktueller Strömungen: hier trafen sich Jack Kerouac, Allen Ginsberg, Fonda und Hopper, Barnett Newman, Judy Garland, Velvet Underground und die Rolling Stones. Manche Kritiker erachten Warhols Beitrag zum Film noch größer als den zur Malerei. Er schuf bahnbrechende Undergroundfilme mit einer über stundenlangen einzigen Kameraeinstellung wie „Sleep“ und „Empire“. Andy Warhol erschuf sein Leben als Kunstwerk und sich als Gesamtkunstwerk – er löste die Trennung von Kunst und Leben auf.

Man erfährt noch viele weitere Details in dieser faszinierenden Biographie – die 1225 Seiten sollten dabei nicht abschrecken: „Superbe“ („The Guardian“), „Fesselnd“ („The Daily Mail“), „Monumental …ein beeindruckendes Werk“. Unbedingt lesenswert.

Blake Gropnik „Warhol. Ein Leben als Kunst – Die Biographie“, Bertelsmann Verlag bei Randomhouse. München 2020, aus dem Amerikanischen von Marlene Fleißig, Hans Freundl, Ursula Held, Hans-Peter Remmler, Andreas Thomsen, Violeta Topalova

Originaltitel: Andy Warhol: A Life As Art, Hardcover mit Schutzumschlag, 1.232 Seiten, 15,0 x 22,7 cm, mit zahlreichen Abbildungen, ISBN: 978-3-570-10207-7, € 48,00