Definitiv hinterlässt das Buch etwas beim Leser und man denkt doch noch einmal darüber nach, obwohl man es eigentlich nicht möchte. Es ist kein leichter Stoff, sondern die Geschichte von vier Menschen, die ein völlig unerfülltes und belangloses Leben führen mussten. Zwei von ihnen, weil sie schwule Männer sind und das in China der Achtziger nicht nur ein Tabu ist, sondern tödliche Folgen haben kann. Und zwei Frauen, die als Ehefrauen der sogenannten Sissys ein Leben in Kauf nehmen mussten, das voller verletztem Stolz, schlechtem Gewissen und unerfüllter Liebe ist. Selbst, als sie nach Amerika immigrieren, ändert sich nichts daran. Erst am Ende ihres verbrauchten Lebens stellen die beiden Frauen sich ihren Lebenslügen, eine zerbricht daran, die andere findet einen eigenartigen Frieden.
Es hilft bestimmt, wenn man die chinesische Mentalität und Kultur ein wenig kennt. Denn sonst wird es schwer, einige der Reaktionen und Taten zu verstehen. Dennoch hat mich das Buch gefesselt und hätte von etwas mehr Licht in der Dunkelheit der Geschichte bestimmt profitiert. Ein Autor, von dem wir bestimmt noch hören werden.
Autorenfoto: Copyright ® Joshua Brandon
Jiaming Tang ist ein chinesisch-amerikanischer Schriftsteller. Seine Texte sind in Publikationen wie Lit Hub und Joyland Magazine erschienen. Er lebt in Brooklyn, New York. Cinema Love ist sein erster Roman.
Second Old weiß schon lange, dass er sich zu Männern hingezogen fühlt. Seine ersten zarten Erfahrungen muss er teuer bezahlen. Eine Mutter, die ihm ins Gesicht spukt, ein Vater, der ihn mit Fäusten traktiert und dann die Schmach, als er vor der Tür knien muss, wo die Nachbarn des Dorfes ihren Unmut an ihm auslassen. Er hat gelernt vorsichtig zu sein. Das Arbeiterkino in Mawei wird seine Zuflucht, denn dort treffen sich schwule Männer zum Stelldichein, um Bekanntschaften zu machen oder einfach nur für bezahlten Sex. Als er dort den schönen Shun-Er kennen und lieben lernt, kann Second Old sein Glück nicht fassen. Doch Shun-Er ist verheiratet und seine Frau Yan Hua hat keine Ahnung, dass er eine sogenannte Sissy ist. Sie vermutet eine andere Frau, doch als sie ihm in das Kino folgt, wird sie mit der Wahrheit konfrontiert. Die Kassiererin weigert sich, ihren Mann aus der Vorstellung zu holen und schickt die verzweifelt Frau mit kalten Worten weg. Aus verletztem Stolz sinnt Yan Hua auf Rache und sie verändert damit das Leben von vier Menschen für immer. Der Filmvorführer Mulan wird daraufhin bei einem Handgemenge mit der Polizei getötet und Bao Mei die Kassiererin verliert damit ihre große Liebe. Sie die immer wusste, was in dem Kino vor sich ging und für das kleine bisschen Freiheit der Schwulen kämpfte, doch nie einen Gedanken an die tief verletzten Ehefrauen verschwendete. Shun-Er nimmt sich das Leben, nach der Schlägerei vor dem Kino, welches dann geschlossen wurde. Und natürlich ist Shun-Ers Tod für seinen Geliebten Second Old ein kolossales Drama. Als er bei der Beerdigung von Shun-Er auftaucht, ist es Yan Hua, die Witwe, die ihn fast bewusstlos schlägt.
Jahre danach immigriert Yan Hua nach Amerika, sie heiratet einen der chinesischen Green Card Männer, um die Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Ihr Leben ist öde, armselig, aber sie hat ihre Freundinnen. Zusammen ziehen sie mit ihren Männern von Wohnung zu Wohnung. Yan Huas altes Leben liegt weit zurück, ist mit Lügen versponnen und ihre Ehe mit dem verstorbenen ersten Ehemann verklärt. Nie hat sie jemandem ihre verächtliche Tat und ihre Schuld gestanden. Erst als ihre Mitbewohnerin May von ihrem Mann Kevin verlassen wird, weil er schwul ist, kocht Yan Huas Lebensgeschichte wieder hoch. Mays Schmerz wird auch wieder Yan Huas, vor allem, weil es ausgerechnet Second Old ist, der eine Liebesbeziehung mit Kevin anfängt. Denn Second Old und Bao Mei die Kassiererin des Kinos in China haben geheiratet, um den Verdacht seiner Homosexualität auszumerzen. Sie sind mittlerweile ebenfalls in die Staaten immigriert und wohnen nur ein paar Blocks entfernt von Yan Hao. Und dort in Chinatown kommt es dann zum unvermeidlichen Show-Down der drei Leben, die sich in ihren unerfüllten Wünschen tief ineinander verflochten haben.
Jiaming Tang kann schreiben und ich wünsche mir, dass sein nächstes Buch heller mit gefälligeren Beschreibungen und auch etwas Glück versetzt ist. Dann kann dieser Autor ein richtig großer Schriftsteller werden.
Ein paar Sätze möchte ich Ihnen gerne noch aus dem Buch mitgeben, die mir sehr gefallen haben: »Sie besorgen sich Mitgliedsausweise, warfen Toilettenpapier und palettenweise Poland-Spring-Wasserflaschen in ihre Einkaufswagen und teilten sich danach eine Pizza im Food Court, wo sie mit ihren mangelnden Englischkenntnissen für falsche Bestellungen und Gelächter sorgten. Vorurteile ärgerten und amüsierten die neuen Einwanderer zugleich, was an einem Ort wie Chinatown kein Widerspruch war. Nein es war ganz einfach die Wahrheit, die Lebensrealität in einem Viertel, in dem ihnen vier oder fünf Häuserblocks gehörten und sonst nichts. … Und trotzdem hatten sie diesen Ort erschaffen.« Zitat Ende
Cinema Love, Jiaming Tang, Klett-Cotta, Hardcover, Seiten 304, ISBN 978-3-608-96607-7, Euro 25,00, Neuerscheinung 12.04.2025, aus dem Amerikanischen von Schweder-Schreiner.