„Antoine des Gommiers“ ist der dritte Roman von Lyonel Trouillot, der im Litradukt Verlag erschienen ist und der ebenfalls von Peter Trier übersetzt wurde. Es ist ein erstklassig geschriebener Roman, der in vielerlei Hinsicht beeindruckt. Sprachlich ein Genuss, Dank einer überaus gelungenen Übersetzung. Denn sogar Beschreibungen von Horror und Gewalt bergen eine gewisse Poesie und Schönheit, wie auf Seite 22: „Am Boulevard Jean-Jacques Dessalines nährt nicht einmal mehr die Illegalität ihren Mann. Nachts bleiben nur einige Geschäfte, die noch illegaler als die vom Tag sind… Ansonsten ist der Boulevard Jean-Jacques Dessalines eine lange Gerade, bewohnt von der Angst, einigen Schreien und dem Lärm der Schüsse. Wenn es also anderswo besser ist, dann ist das keineswegs erstaunlich“. Auch wenn die Geschichte von sehr lebhaften, farbenfrohen Charakteren angetrieben wird, lebt sie von den Gedanken, die sie beinhaltet und von denen sie getragen wird. Während Franky der sensible, idealistische Träumer ist, der in seinem Kopf lebt und den Leser anspricht, indem er von den glorreichen Tagen des Antoine des Gommiers erzählt, ist Tony der Pragmatiker, der Ich-Erzähler, der mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht. Mit Tonys Augen sehen wir die Nachbarschaft als ein ganzes Ökosystem. Es ist fast ein Staat innerhalb eines Staates, in dem Schläger wie sein ehemaliger Schulfreund Pepe dem Gesetz am nächsten kommen. Durch Tony erfahren wir von Jugendlichen, die ihre Sexualität erforschen und es heißt: Das Mädchen, das noch nicht alt genug ist, um schwanger zu werden, dafür muss es noch vier oder fünf Jahre warten, sondern einfach nur alt genug, um neugierig zu sein, und das kein Spielzeug außer seinem Körper hat…“ Damit fordert der Autor unseren Urteilsinstinkt heraus. Er fragt, was wir glauben, was wir tun würden, wenn das unsere Realität wäre.
Trouillot verwebt seine gesellschaftsrelevanten Gedanken und Anliegen gekonnt mit seiner Geschichte und erzählt von Verleugnung (Antoinettes und Frankys Weigerung an die Grenzen ihrer materiellen Realität zu glauben und Tonys Weigerung, der Macht des Träumens Glauben zu schenken), von Bewältigungsmechanismen und dass es keine Entweder-oder-Wahl ist, sich von Träumen leiten zu lassen oder sich auf die materielle Realität zu konzentrieren; beides ist überlebensnotwendig. Träume und Taten sind untrennbare Teile eines zusammenhängenden Ganzen. Und wie im richtigen Leben geht es um Macht. Antoine des Gommiers Macht über die nationale Vorstellungskraft, Pepe, der Mafiaboss, übt Macht durch Gewalt und Einschüchterung aus und der Präsident der Historischen Gesellschaft übt die Macht der Ideen aus. So wie der Autor Pragmatismus nicht den Träumen vorzieht, so bevorzugt er auch keine Form von Macht über andere, denn: jede Form von Macht ist echte Macht.

Foto: Jane Evelyn Atwood
Lyonel Trouillot, einer der wichtigsten Gegenwartsautoren Haitis, wurde 1955 in Port-au-Prince geboren, wo er noch heute lebt. Nach einem Jurastudium wandte er sich ganz seiner eigentlichen Leidenschaft, der Literatur, zu. Er schreibt Lyrik und Prosa auf Kreolisch und Französisch. Seine Romane machten ihn international bekannt und wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Als politisch engagierter Autor setzte sich Lyonel Trouillot stets für die Demokratie in seinem Land ein. Er lehrt französische und kreolische Literatur an der Universität Port-au-Prince. Bei Litradukt erschienen bereits die Romane Jahrestag und Therése in tausend Stücken.
Peter Trier, geboren 1970 in München, wuchs in Bonn auf, studierte Deutsch und Französisch und war DAAD-Lektor in Clermont-Ferrand, Frankreich. Er ist heute als technischer und wirtschaftlicher Übersetzer tätig. 2006 gründete er den Litradukt-Verlag, für den er zahlreiche Bücher übersetzte, darunter die Werke von Georges Anglade, Gary Victor (außer Dreizehn Voodooerzählungen), Lyonel Trouillot, Victoire von Maryse Condé sowie Der Zwang des Unvollendeten von Anthony Phelps.
Franky und Ti-Tony sind Brüder, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Während Franky in der Vergangenheit und für Worte und Stilfiguren lebt, schlägt sich Ti-Tony mit der Gegenwart herum, um ihnen das Überleben in dem Armenviertel von Port-au-Prince zu ermöglichen, in dem sie aufgewachsen sind. Dass sie angeblich von dem berühmten Wahrsager Antoine des Gommiers abstammen, bedeutet dem praktisch denkenden Ti-Tony wenig, Franky dagegen sehr viel. Er macht sich über den illustren Ahnen kundig und schreibt ein Buch über ihn. Das Buchprojekt wird zu einem Abenteuer voller überraschender Wendungen. Ein zweistimmiger Roman voll Poesie und Humor, der im Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Gelehrtheit und Lebensklugheit von der Macht der Worte, von Tragik, Hoffnung und vom Menschlich-Allzumenschlichen erzählt.
Litradukt – Taschenbuch – 173 Seiten – 15,00 € – ISBN 978-3-940435-42-2