Für mich ist dieser Roman zum einen eine Darstellung des Lebens innerhalb der ehrgeizigen und leistungsstarken koreanisch-amerikanischen Gemeinschaft in New York City während der 1990er Jahre und zum anderen die Thematisierung der komplexen Liebe, die Einwandererfamilien im Guten wie im Schlechten verbindet. Das Buch ist fesselnd, schwer aus der Hand zu legen, voller Charme und Witz und reich an interessanten Einblicken in die einzelnen Charaktere. Ja, die Art und Weise, wie die Autorin auf die Protagonisten eingeht, ist Romanen des 19. Jahrhunderts nachempfunden. Ein interessanter Kontrast zu dem ansonsten zeitgenössischen Fluss und Stil. Min Jin Lee zeichnet von ihrer Protagonistin Casey Han, eine koreanisch-amerikanische Ivy-League-Absolventin, hin- und hergerissen zwischen den Welten ihrer Einwandererziehung und ihrer verwöhnten College-Freunde ein recht realistisches Bild: ihr Streben nach höherer Bildung, ihr Materialismus, ihr Wunsch nach Religion, ihre Lust, ihr Bedürfnis nach Unabhängigkeit, ihre Kreditkartenschulden und ihre Liebe zur Mode. Trotz der Tatsache, dass Casey bereit ist, sich von ihrer Familie, ihrem betrügenden amerikanischen Freund, ihrem koreanischen Freund zu trennen und die Hilfe eines langjährigen Freundes der Familie im Namen der Unabhängigkeit ablehnt, schafft sie es nie ganz, es der Familie recht zu machen. Ungeachtet all der Verletzungen, Kränkungen und Grausamkeiten, die von und an den Charakteren in diesem Buch zugefügt werden, fühlt es sich nie düster an. Min Jin Lees Charaktere haben reichlich Grund zynisch zu sein – und einige sind es manchmal – aber sie sind dabei nicht abgestumpft. Tatsächlich gibt es immer wieder Momente des Wohlwollens und der Verbundenheit und Großzügigkeit und Wärme zwischen den unzähligen Charakteren in dieser weitläufigen Geschichte. Aber vor allem ist dieses Buch von einer tiefen Sehnsucht geprägt. Jede Figur sehnt sich nach etwas, jemandem, einem Ergebnis, das sich unerreichbar anfühlt, das mit dem Leben anderer verstrickt ist und Folgen hat, die ebenso verletzend wie bereichernd sind. Es ist die Sehnsucht nach Sex, nach Liebe über die Ehe hinaus, nach immensem materiellen Reichtum, nach Wall Street Connections und sechsstelligen Boni und es ist Caseys Kampf, ihren Platz in der Welt zu finden.
Min Jin Lee wurde 1968 in Seoul/Südkorea geboren und immigrierte, als sie acht Jahre alt war, mit ihrer Familie in die USA. Sie hat in Yale studiert und vor der Veröffentlichung ihres ersten Romans als Anwältin gearbeitet. ›Ein einfaches Leben‹ stand auf der Shortlist des National Book Award und auf allen Bestsellerlisten der USA. Min Jin Lee lebt in New York.
Andrea Fischer überträgt seit über zwanzig Jahren Bücher aus dem britischen und amerikanischen Englisch ins Deutsche, unter anderem von Michael Chabon. Sie lebt und arbeitet im nördlichen Münsterland.
Casey Han, Tochter koreanischer Einwanderer, hat sich den amerikanischen Traum zu eigen gemacht: Sie will reich und erfolgreich sein. Doch nach dem Studium hat sie noch keinen Job und lebt über ihre Verhältnisse – zum Ärger der Eltern, die große Opfer gebracht haben, um ihren Kindern eine bessere Zukunft zu bieten. Während Casey vor der bunten Kulisse New Yorks einen Weg voller kleiner Triumphe und spektakulärer Misserfolge beschreitet, prallen Werte und Wünsche aufeinander.
dtv – gebunden – 848 Seiten – 28,00 € – ISBN 978-3-423-28331-1