Gastrezension Dr. Ulrike Bolte:
Selten habe ich ein subtileres, komplexeres Buch gelesen als Siri Hustvedts „Die gleissende Welt“, der in New York lebenden Schriftstellerin, Essayistin, Literaturwissenschaftlerin und Dozentin. Ihre Protagonistin, die fiktive Künstlerin Harriet (Harry) Burden (engl. für „Last“) versucht anhand von ihr so genannten „Masken“, männlichen Alter Egos, die Bedingungen für eine weibliche Künstlerin auf dem immer noch von Männern dominierten Kunstmarkt, die Mechanismen ihrer Wahrnehmung, die Kriterien für die Rezensenten und Kritiker auszuloten.
Siri Hustvedt, geboren 1955 in Northfield, Minnesota, studierte Literaturwissenschaft an der New Yorker Columbia University und promovierte mit einer Arbeit über Charles Dickens. Sie lehrt an der psychiatrischen Abteilung des Weill Medical College in Cornell und lebt mit ihrem Mann Paul Auster in Brooklyn. Mit dem Roman „Was ich liebte“ gelang ihr der Durchbruch. Daneben ist sie eine profilierte Essayistin (bei Rowohlt „Leben, Denken, Schauen“, „Nicht hier, nicht dort“, „Being a Man“). Zuletzt erschienen die internationalen Bestseller „Die zitternde Frau“ und „Der Sommer ohne Männer“.
Fiktive Tagebucheinträge führen ein in das Leben einer Frau, die nicht gewagt hat, neben ihren Tätigkeiten als Frau eines renommierten Kunsthändlers, ihre berufliche Karriere als Künstlerin zu verfolgen. Ihre immensen Kenntnisse in Philosophie, (Kierkegaard, Heidegger, Husserl), feministischen Theorien (Judith Butler), Psychoanalyse oder Neurowissenschaften (ausgewiesen durch kommentierende Fußnoten) spiegeln sich in drei Ausstellungen wider, die sie mit drei männlichen Künstlern zusammen erarbeitet. Auch hier zunächst namenlos bleibend in der Hoffnung, nach und nach durch Kritiken und Gegenargumente, beide von ihr unter Pseudonymen verfasst – doch noch in der Kunstwelt wahrgenommen zu werden, wenn nötig auch durch einen Paukenschlag. Dieses Ansinnen misslingt jedoch, da der männliche Künstler, dessen sich Burden bedient, den Spieß herumdreht und ihren Anteil für sich vereinnahmt. Mühelos wechselt sie dabei von der 1. in die 3. Person – kaleidoskopartig entwickeln sich die Facetten einer vielschichtig multiplen Persönlichkeit, ihrer verschiedenen Identitäten, gesehen durch Familie, Freunde, Künstlerkonkurrenten, Rezipienten, ihren Biographen. Ein Buch – nach spiegel-online vom 15.6.2015 das „literarisch anspruchsvollste Buch auf der Bestsellerliste von 2015“ – das einen faszinierenden Einblick in die Kunstwelt bietet, der Frage nach der Beziehung des Künstlers zu seinem Werk, dem Konkurrenzkampf und der bejahenden oder vernichtenden Wahrnehmung, die letztlich auch Burden umbringt – changierend zwischen intellektueller Brillanz, Wut, Ohnmacht und Hilflosigkeit. Die Entdeckung ihrer subtilen Puppenkörper- und Rauminstallationen findet erst allmählich nach ihrem Tod in der Zukunft statt wie bei so vielen Künstlerinnen. Der Titel „Die gleissende Welt“ basiert auf einem Roman der englischen Herzogin und Philosophin Margaret Cavendish aus dem 17. Jahrhundert, der auch die zu frühe Reife ihres als erste Frau unter ihrem Namen veröffentlichtes Werk bewusst war und die hoffte, später einmal wahrgenommen zu werden – wozu die Welt drei Jahrhunderte brauchte! Das Buch ist der bisher beste Roman Siri Hustvedts – der „feministischen Variante Woody Allens“ (spiegel-online). Trotz der vielen Verweise gut lesbar und unbedingt zu empfehlen!
Dr. Ulrike Bolte
Siri Hustvedt: „Die gleissende Welt“, Rowohlt Verlag, ISBN 978 3 498 03024 7