Anne Tyler: Drei Tage im Juni

Anne Tyler versteht es auf bewundernswerte Weise gewöhnliche, alltägliche Situationen durch ihre intensiven Beobachtungen in etwas Außergewöhnliches und Fantasievolles zu verwandeln. So geschehen in „Drei Tage im Juni“. Und obwohl sie nicht mehr als 240 Seiten dafür benötigt, ihre – beziehungsweise Gails – Geschichte zu erzählen, ist am Ende alles gesagt. Weil sie nicht nur genau hinschaut, sondern auch präzise formuliert. Keine Sorge, es liest sich nicht etwa wie die Klageschrift eines Anwaltes. Ganz im Gegenteil. Die Geschichte von Gail, stellvertretende Direktorin einer Mädchenschule, ist in der Mittelschicht angesiedelt, also bekanntes Terrain für die meisten Leser: innen, und Tyler versteht es, mit ihren wunderbaren Charakteren, selbst denen, die nicht so wunderbar sind, zu fesseln. Ich kann sie alle vor mir sehen: Max, Gails Ex-Mann, der zur Hochzeit ihrer gemeinsamen Tochter Debbie samt namenloser Katze anreist, Debbie, die einen Tag vor der Hochzeit erfährt, dass ihr Verlobter Kenneth ihr untreu war, Kenneth Schwester, Giftspritze Elizabeth, die es sich nicht nehmen lässt, ihrer Schwägerin in spe die Untreue ihres Zukünftigen unter die Nase zu reiben, sowie Sophie, die Bräutigammutter, die einen Schönheitstag organisiert – ohne Gail. Als wäre das nicht alles schon genug für einen Tag, wird Gail am Arbeitsplatz übergangen. Sie wird nicht die Nachfolgerin von Direktorin Marilee Burton – man spricht ihr die Sozialkompetenz ab -, sondern verliert auch noch ihre Arbeit, weil es die neue Direktorin nur im Doppelpack mit ihrer Stellvertreterin gibt. Aber über all dies nachdenkend, eröffnen sich für Gail ungeahnte Möglichkeiten.

„Drei Tage im Juni“ lebt von seinen Charakteren, ist witzig, klug, scharfsinnig und einfühlsam und – letztlich zu kurz.

Foto: Michael Lionstar

Anne Tyler, geboren 1941 in Minneapolis, Minnesota, ist Autorin von zahlreichen Romanen und Trägerin des Pulitzerpreises. Für ihr Lebenswerk erhielt sie den Sunday Times Award. Sie ist Mitglied der American Academy und des Institute of Arts and Letters. Bei Kein & Aber erschienen unter anderem ihre Bestseller Launen der Zeit, Der leuchtend blaue Faden, mit dem sie auf der Shortlist des Man Booker Prize und des Women’s Prize for Fiction stand, sowie Der Sinn des Ganzen, der für den Booker Prize nominiert war. Anne Tyler lebt in Baltimore.

Drei Tage stehen an, in denen sich Gail und Max, beide Ende fünfzig und seit Längerem getrennt, anlässlich der Hochzeit ihrer Tochter Debbie zusammenfinden. Max reist, nichts ahnend von der Allergie des Bräutigams, überraschenderweise mit einer Katze an, weshalb er statt bei seiner Tochter bei Gail wohnen muss. Obwohl diese Vorstellung für Gail zunächst kaum auszuhalten ist, willigt sie ihrer Tochter zuliebe zähneknirschend ein. Doch schnell zeigt sich: Die alte Verbindung ist immer noch da. Gemeinsam müssen sie sich mit der Frage nach der Treue des Bräutigams auseinandersetzen, und damit, ob Vertrauen auch nach Jahren wiederhergestellt werden kann. Sie blicken aus belustigter Distanz auf die Feierlichkeiten, erinnern sich an Vergangenes und stellen sich Fragen nach der Zukunft – was hält das Leben noch für sie bereit?

Kein&Aber Verlag – gebunden – 240 Seiten – 22,00 € – ISBN 978-3-0369-5040-2

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