Die Quellen, Marie-Hélène Lafon

Die unglaublichen Stärken von Madame Lafons Literatur sind ihr einmaliger Erzählstil und das sie einfach weiß, wovon sie spricht. Ob sie in ihrer Kindheit im Cantal in der Auvergne einfach nur eine gute Beobachterin war oder ob es ihr so ging, wie einer der Kinder in diesem Buch, werden wir nicht erfahren. Doch sie beschreibt die Einsamkeit, Not, Bedrohung und Verzweiflung ihrer Protagonisten mit solch berührenden Worten, die ganz nebenbei fallen, als wäre sie in jeder Sekunde dabei gewesen. Genau wie das Buch Die Annonce und auch Die Geschichte des Sohns sind Die Quellen wieder atemraubend. Ihre Bücher kann man nicht zur Seite legen, keines das ich bisher besprochen habe. Erst wenn die letzte Seite gelesen ist, klappe ich es zu.

Die Quellen erzählen zwei Tage, den 10. und 11.Juli 1967 einer Bauersfrau mit drei Kindern und einem gewalttätigen Mann. Dann erfahren wir die Gedanken vom 19.Mai 1974 des Bauern und am Ende, am 28. Oktober 2021 kommt Claire die Tochter zu Wort. Vier Tage in einem Leben, die ein Leben beschreiben und sowohl Melancholie aber auch Hoffnung hinterlassen. Hoffnung darauf, dass wir die Leser, uns nie zu Gefangenen von Verpflichtungen machen und dabei vergessen zu leben. Chapeau Madame Lafon!

Auitorinnenfoto: Copyright ® Olivier Roller

Marie-Hélène Lafon, geb. 1962, gehört zu den interessantesten literarischen Stimmen im heutigen Frankreich. Die meisten ihrer rund fünfzehn Bücher, die in mehrere Sprachen übersetzt vorliegen, spielen im Cantal in der Auvergne, in der abgeschiedenen, von Landwirtschaft geprägten Bergwelt, wo Lafon aufgewachsen ist. Seit vielen Jahren lebt und schreibt sie in Paris. 2016 erhielt sie den Prix Goncourt de la nouvelle.

 

In der Auvergne leben Bergmenschen, ein hartes Bauernvolk, das der Natur einen kargen Lohn abringt. Als Mensch muss man akzeptieren, dass das Leben Arbeit und Einsamkeit ist. Man hat Verpflichtungen und einen Ruf, den es zu schützen gilt. Es ist egal, ob man dort Mann oder Frau ist, sogar als Kind kennt man seinen Platz und die Aufgaben. Der Alltag eines solch gnadenlos mühsamen Lebens macht Mann gewalttätig, Frau depressiv und die Kinder still.

Wenn dann plötzlich der Tag der Erkenntnis da ist, indem man einsieht, dass der Bauernhof schön ist, aber nicht wert, das Leben von fünf Menschen unerträglich zu machen, dann passiert es. Entweder man geht den Schritt in die richtige Richtung oder lügt sie den Rest seines Lebens etwas vor.

So ernst die Themen sind, die Madame Lafon in Die Quellen aufgreift, sie erzählt die vier Tage der Familie mit einer Leichtigkeit, die schon fast unbegreiflich ist. Es ist wie ein sachlicher Bericht, der nicht wertet, sondern beschreibt. Nur deshalb ist es möglich sogar ein wenig Verständnis für den gewalttätigen Bauern aufzubringen, denn auch er tut nur das, was man von ihm erwartet und würde daran zerbrechen, wenn er es infrage stellen müsste.

Die Quellen, Marie-Hélène Lafon, Atlantis Literatur, gebunden, Seiten 128, ISBN: 978-3-7152-5065-9, Euro 20,00.

 

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