Was erst einmal trocken klingt, ist ein Krimi, fast ein Thriller. Denn die Akten des Bundesverfassungsgerichts und vor allem die Handakten, Voten und Entwürfe der Richter wurden der Öffentlichkeit erst im Jahr 2017 zur Verfügung gestellt. Zum achtundsechzigsten Geburtstag des Grundgesetzes und nach sechsundsechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, öffnete man in Karlsruhe die Archive.
Thomas Darnstädt hat anhand von sieben Urteilen von 1951-1975 gezeigt, wie fragil die junge Demokratie in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg war. Wie entscheidend das Verfassungsgericht, die Weichen zur Anwendung des Grundgesetzes steuerte. Aus heutiger Sicht in manchen Fällen völlig richtig, in manchen Fällen völlig falsch. Doch auch die falschen Entscheidungen, wie bei der Spiegel-Affäre hinterließen einen Meilenstein. Denn der Zusatz C1 dieses Urteils schützte die Presse fortan vor solchen Übergriffen der Justiz, wie wieder einmal Redaktionen zu durchwühlen.
Das Buch liest sich wie ein hochbrisanter Polit-Krimi, lässt einen Schauer über den Rücken laufen, wenn man von der, an Willkür grenzende Gesetzgebung nach dem Krieg erfährt. Ein Stück Entstehungsgeschichte des Rechts in einem demokratischen Staat.
Thomas Darnstädt, Dr. jur., geboren im Jahre des Grundgesetzes 1949, ist Jurist und Journalist mit den Schwerpunkten Verfassungsrecht, Polizeirecht und internationales Recht. Jahrzehntelang schrieb er im Spiegel über Rechtspolitik, Demokratie und das Grundgesetz. Er ist Autor mehrere staatsrechtlicher Bücher, zuletzt erschien bei Piper „Nürnberg. Menschheitsverbrechen vor Gericht 1945“. Er lebt mit seiner Familie in Hamburg.
Sieben Urteile des Bundesverfassungsgerichts werden beleuchtet: Das KPD-Verbot, Gleichberechtigung, Homosexuellenparagraf, Elfes-Urteil, Lüth-Urteil, Fernsehstreit, Spiegel-Affäre und der Streit um den §218.
Daran macht der Autor die Wichtigkeit und den entscheidenden Einfluss der Urteile des Bundesverfassungsgerichtes an unserer heutigen Demokratie in Deutschland fest. Denn mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes, war das zarte Pflänzchen der neuen Bundesrepublik Deutschland nach 1945, noch lange nicht demokratisch. Und noch konnten nicht bei allen Paragrafen des GG in ihrem Sinne Recht gesprochen werden.
An dem Beispiel der Gleichberechtigung der Frauen GG Artikel 3, zeigt Darnstädt, wie damals bis 1959, der entscheidende Satz, „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, einfach nicht umgesetzt werden konnte. Denn immer noch wurde nach geltenden Familiengesetz des BGB geurteilt wurde. Im Familiengesetz war die heilige Familie ein weitgehend grundrechtsfreier Raum. Männer bestimmten! Frauen waren unmündig, ob nun finanziell, arbeitsrechtlich oder wie die Kindererziehung von Statten gehen sollte. Wie sich die, bis auf eine Frau, männlichen Richter durch den Prozess zur Abschaffung des Patriachats diskutierten, stritten, Meinungen revidierten und subsumierten, wird in dem Kapitel ganz klar. Mit ihrem Urteil 1959 war ein Riesenschritt in Richtung Gleichberechtigung der Frau verkündet worden.
Doch nicht immer waren die Urteile aus heutiger Sicht richtig. Als Beispiel seien die mit großer Konsequenz falschen Entscheidungen zum Homosexuellenparagraf und der Streit um § 218 genannt. Dennoch wurden bahnbrechende Schritte mit dem Lüth-Urteil, dem Verbot des staatlichen Fernsehens und einem Teil der Spiegel-Affäre vom Bundesverfassungsgericht gemacht.
„Vor einem halben Jahrhundert, resümierte der alte Professor Hoffmann, habe das „Spiegel“-Urteil, jedenfalls sein Teil C1, der Entfaltung der Demokratie in Deutschland „einen Schubs“ gegeben. Nun brauchte es wieder einen.“ (Zitat)
So sieht der Autor die Problematik des Internets mit seinen sozialen Netzwerken:
Zitat:
„Denn das Netz hat sich bislang nicht als brauchbare Arena der öffentlichen Meinung gezeigt. Abgewogene Leitartikel werden ersetzt durch „Blogs“, aufwendig recherchierte Enthüllungen mischen sich mit ungeprüfter Weitergabe von Gerüchten und Behauptungen, Fake News machen das ganze Journalistengewerbe dem Volk suspekt. Rede und Gegenrede wird ersetzt durch den Facebook-Daumen. Wo Akklamation an die Stelle von Diskussion trifft, ist die Seele der Demokratie in Not: Die Epoche der zweiten Aufklärung könnte mit den gedruckten Medien an ihr Ende gekommen sein.“
Ein hochinteressantes, bildendes Buch für jeden Demokraten, um die Anfänge unserer Rechtsprechung und Demokratie zu verstehen. Es zeigt eindeutig, warum Institutionen wie ein Bundesverfassungsgericht so wichtig sind für die Freiheit und das Recht eines jeden einzelnen Mitbürgers. Und, um dann auch zu verstehen, warum „Regenten mit autoritären Ambitionen – etwa in Polen oder der Türkei – als Erstes beginnen, ihr Verfassungsgericht zu demolieren.“ (Zitat)
Verschlusssache Karlsruhe, Thomas Darnstädt, Piper Verlag, gebundene Ausgabe, 412 Seiten, ISBN 978-3-492-05875-9, Euro 24,00.