Schlagwort: Familiengeschichte

Markus Gasser: Lil

Ich kann nur staunen, was Markus Gasser alles in rund 240 Seiten zu packen vermag. Ein wahrer Künstler des Komprimierens. Es wimmelt nur so von Figuren und Nebenfiguren, Gedanken, Ideen, Geschichten und Nebengeschichten, dass ich mich zeitweise wie auf der Achterbahn fühle. Innerhalb von drei Seiten weiß ich, dass die Ich-Erzählerin Sarah aufgrund einer Krebs-OP und der damit einhergehenden Strahlentherapie von ihrem Job als Journalistin des Wall Street Journals beurlaubt wurde und sie die Ur-ur-ur-urgroßenkelin der Titelgebenden Protagonistin Lil (Lilian Cutting) ist. Gasser erzählt seine Geschichte nicht chronologisch, sondern springt munter von einer Zeitebene in die andere – vom Krankenbett im hier und heute ins New York Weiterlesen

Hika Harada: 3000 Yen fürs Glück

Hätte ich das kleingedruckte bzw. den Untertitel „Ein Familienroman…“ gelesen, hätte ich mich vermutlich nicht für den Roman von Hika Harada entschieden. Mir stand nicht der Sinn nach düsteren Familiengeheimnissen, die von der Enkel: in-Generation ans Licht gezerrt werden und die Übeltäter, da verstorben, nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden können. Und so freue ich mich, dass meine Neugier obsiegte, denn in Haradas Familiengeschichte geht es um das hier und heute und ein wenig um die Zukunft. Reicht mein Geld und kann ich es mir leisten? Eine zentrale Frage für die japanische Gesellschaft und zwar in jeder Lebensphase und die Autorin stellt eine der größten Ängste ihrer Landsleute in den Mittelpunkt ihres Romans, der mittlerweile als Serie für das Fernsehen verfilmt wurde. Anhand der Frauen der Familie Mikuriya beschreibt Harada die Weiterlesen

Sophie Hardach: Unser geteilter Sommer

2019, zum 30. Jahrestag des Mauerfalls, erschien der Roman »Confession with Blue Horses« von Sophie Hardach in Großbritannien. Leider erst 3 Jahre später kam diese Ostdeutsche Familiengeschichte mit autobiografischen Zügen in deutscher Übersetzung auf den Markt. Und vielleicht ist diese gelungene Mischung aus Realität und Fiktion das, was diese Erzählung besonders macht: sie spricht intellektuell und emotional an, bleibt dabei glaubhaft und authentisch. Der Schuss Fiktion ist vielleicht ein bisschen Balsam für die Seele der Leser: innen, denn das Leid, der Schmerz und der Schaden, den totalitäre Staaten ihren Bürgern zufügen, ist für Menschen, die in Freiheit aufgewachsen sind, schwer nachvollziehbar und kaum verständlich. Weiterlesen

Haie in Zeiten von Erlösern, Kawai Strong Washburn

Hawaii, ein Land der Seelentiere, der Geisterwanderern und der mächtigen, meditativen Bedeutung von Hula. Hawaii, ein armes Land, in dem man verhungern kann. Ein Land in dem die Haole, die Weißen, sich ihre Koffer von den Einheimischen in die Glaspaläste der Touristenhotels schleppen lassen. Als die Zuckerrohrindustrie zusammenbricht, muss auch Malia mit ihrem Mann und den drei Kindern näher an die Urlaubsstädte ihrer Inselgruppe, um Arbeit zu finden. Auf einer Tour mit dem Ausflugsboot fällt ihr siebenjähriger Sohn Nainoa über Bord in den Pazifik. Doch anstatt zu ertrinken oder von den großen Haien angegriffen zu werden, die ihn sofort umkreisen, passiert etwas, was einem Wunder gleicht. Einer der Haie nimmt das Kind vorsichtig in sein Maul und bringt es zum Boot zurück. Eine Legende ist geboren, die weite Kreise zieht, vor allem weil Nainoa wenig später einen Jungen heilt, dessen Hand von einem Feuerwerkskörper zerrissen wurde. Eine dramatische Familiengeschichte voller Hoffnung, eine Liebeserklärung an Hawaii und seine Götter, eine flotte Erzählung über die Suche nach Wurzeln in der Heimat und in der Liebe zwischen Kindern, Eltern und Geschwistern.

Eines der großartigen Debüts, die ich lesen durfte. Mit einem Schreibstil, der selbst in den traurigsten Minuten der Geschichte die Leichtigkeit und Zartheit von hawaiianischen Blumenketten oder den ausladenden Hüftschwung beim Hula annimmt.  Weiterlesen

Pierre Lemaitre: Die Farben des Feuers

Pierre Lemaitre würzt die ohnehin an Katastrophen reiche Zwischenkriegszeit, in der er seine figuren- und handlungs-reiche Geschichte ansiedelt. Mit Intrigen, die er um das Erbe der im Mittelpunkt stehenden Bankiers-Familie Péricourt entspinnt und einem Rachefeldzug einer betrogenen Frau, als Antwort für die Neider, die auf das Verderben der Familie hinarbeiten. Er bestätigt erneut, dass er mit Ironie und immer wieder neuen Wendungen einfallsreich Spannung und intelligente Unterhaltung erzeugen kann und die Handlung durch Wechsel zwischen den Nebenhandlungen und Perspektiven flott und plausibel forciert, während im Hintergrund Börsenkrach, Korruption, Steuerbetrug, soziale Spannungen, Machtantritt faschistischer Regime die Weltpolitik bestimmen. Für den Titel hat Lemaitre eine Verszeile aus dem Gedicht „les lilas et les rose“ (1941) von Louis Aragon gewählt und dem Roman ein Zitat von Jakob Wassermann aus „Der Fall Mauritius“ vorangestellt: „Es gab, genau besehen,  nicht Gute und Böse, Ehrliche und Schwindler, Lämmer und Wölfe, es gab nur Bestrafte und Unbestrafte, das war der ganze Unterschied.“ Lemaitres Charaktere sind lebendig und vielschichtig – namentlich Paul und Madeleine. Nicht alle Protagonisten sind charmant oder liebenswert, manche gar abstoßend. Aber auch bedingt dadurch, entsteht ein äußerst lesenswertes, aussagekräftigtes Sozialepos der 1930er Jahre in Frankreich, bei dem vor allem die Oberschicht nicht gut wegkommt. Weiterlesen

Martin Beyer: Tante Helene und das Buch der Kreise/ Interview mit dem Autoren

Man kann eine Familiengeschichte so oder so erzählen. Oder wie Martin Beyer! Ihm ist gelungen, das Leben der Helene K. in einer packenden, aufwühlenden Geschichte zu erzählen. Beruhend auf persönlichen Gesprächen mit der Künstlerin Irene Wedell zeichnet der Autor einfühlsam und respektvoll das Bild der authentische Protagonistin Helene Klasing. Eine vielseitig talentierte Persönlichkeit, die in der Nachkriegszeit heranwächst. Eine Zeit, die durch ständigen Wandel bestimmt wird: wirtschaftliche Veränderungen und Besserungen, gesellschaftspolitische Bestrebungen, die in der 68er Bewegung ihre vorläufige Hochzeit erleben. Helene, mittlerweile Studentin und mit Harry einem Studenten auf Lehramt liiert, der zum inneren Kreis der 68er Bewegung gehört, erkennt schnell, dass diese Bewegung nicht ihre Bewegung ist. Sie wird weder als Frau noch Künstlerin ernst genommen und selbst Harry bezweifelt ihre intellektuellen Kapazitäten, um an den Grundsatzdiskussionen teilzunehmen.

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Film: Die Adern der Welt, DVD und Blu-Ray

Wer den Film »Das Weinende Kamel« gesehen hat, dem brauche ich über diesen Film nicht viel erzählen. Wer aber die Filme von Byambasuren Davaa nicht kennt, dem kann ich nur empfehlen, sehen Sie einen, dann werden Sie alle sehen. Einfühlsam für die Ursprünglichkeit der modernen Nomaden in der Mongolei, die Traditionen und die Liebe zu ihrem Land, erzählt sie eine Geschichte von heute. Eine Geschichte, die geprägt ist vom Raubbau an der Erde, von Geisterglauben und Familienzusammenhalt, aber auch von Smartphones und der Fernsehshow »Mongolia’s Got Talent«, bei uns als »Deutschland sucht den Superstar« bekannt ist.

So träumt auch der zwölfjährige Amra in der Show aufzutreten, als ein tragischer Unfall sein Leben auf den Kopf stellt. Er muss von heute auf morgen erwachsen werden und für sein Land und die Traditionen kämpfen. Er Film, der zu Herzen geht und Sehnsüchte nach Natur und Ritualen weckt, die uns Menschen langsam für immer entgleiten. Ein wunderbarer Film!

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Jo Lendle: Eine Art Familie; Interview mit Jo Lendle

Eine Art Familie von Jo Lendle

Acht lange Jahre hat Jo Lendle seine Leserschaft auf ein neues Buch von sich warten lassen, aber es hat keine 2 Seiten gebraucht und ich bin abgetaucht in die die Geschichte „Eine Art Familie“. Nicht nur, weil sie spannender als mancher Krimi ist, sondern weil der Auto mit seiner elegant-schlanken Sprache eine atmosphärische Dichte erzeugt, die man nur genießen kann. Jo Lendle trifft scheinbar mühelos mit dezenten sprachlichen Mitteln den Ton der frühen Jahre des letzten Jahrhunderts, ohne dabei antiquiert, bemüht oder verstaubt zu wirken. Der Autor, selbst Teil der Familie seiner Romanfiguren, wahrt dennoch zu ihnen die gebotene schriftstellerische Distanz. Er urteilt nicht. Er rechnet nicht ab. Trotz des „Sicherheitsabstandes“ spürt man die Sympathie für seine Protagonisten, besonders für Alma, die eigentlich gar keine Verwandte ist, aber ihren Platz in dieser „Eine Art Familie“ hat. Es entsteht ein kulturell-humanistisch geprägtes Portrait des Bildungsbürgertums des letzten Jahrhunderts. Weiterlesen

Denn Familie sind wir trotzdem, Heike Duken

Denn Familie sind wir trotzdem von Heike Duken

Eine wunderschöne, traurige, hoffnungsvolle, bezaubernde und sogar manchmal lustige Familiengeschichte, die 1925 beginnt und 2019 endet.

Ein Roman der sich über drei Generationen zieht und durchweg voller starker Frauengestalten ist. Eine Geschichte, die so einfühlsam erklärt, warum sich Menschen auch für falsche Wege entscheiden und sich irgendwann wieder finden. Heike Duken hat geradezu virtuose Fähigkeiten, sich sprachlich in den unterschiedlichen Charakteren auszudrücken. Der Roman fesselt nicht nur, er hallt auch lange in einem nach und hinterlässt ein kleines Gefühl von Glück. Seit Langem mal wieder eine Geschichte, die auf die Liste der schönsten Bücher kommt, die ich je gelesen haben.

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Die Annonce, Marie-Hélène Lafon

Das Buch Die Annonce gehört definitiv zur anspruchsvollen Literatur. Auch wenn die Geschichte so alt ist wie die Gesellschaft. Sie erzählt von der Not, der Qual, den Ängsten, Vorurteilen und auch Schuld einer Gruppe von Menschen, die versucht haben, ihr Leben so gut wie möglich zu meistern. Doch für zwei von ihnen ist der Zeitpunkt gekommen endlich etwas zu verändern, einem Zwang, einer Vergangenheit und vorbestimmten Zukunft zu entfliehen. Deshalb gibt der sechsundvierzigjährige Auvergne Bauer Paul eine Annonce auf:

„Landwirt, sanft, sechsundvierzig, sucht junge Frau, die das Land liebt.“

Und so kommt die aus erster Ehe völlig geschundene Annette mit ihrem elfjährigen stillen Kind Éric nach Fridières ans Ende der Welt. In Pauls Haus, das jedoch noch von seinen beiden alten Onkeln und seiner verhärmten zur Boshaftigkeit neigenden Schwester Nicole bewohnt wird.

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