Miriam Gebhardt: Wir Kinder der Gewalt. Wie Frauen und Familien bis heute unter den Folgen der Massenvergewaltigungen bei Kriegsende leiden

Rezension von unserem Berlinkorrespondenten Rolf Maier-Lenz

Miriam Gebhardt
Foto: Oliver Rehbinder

Miriam Gebhardt ist Journalistin und Historikerin und lehrt als außerplanmäßige Professorin Geschichte an der Universität Konstanz. Neben ihrer journalistischen Arbeit, unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, die Zeit und verschiedene Frauenzeitschriften, habilitierte sie sich mit einer Arbeit über Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen. Eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert (2009). Sie ist Autorin mehrerer Bücher, darunter Rudolf Steiner. Ein moderner Prophet (2011) sowie Alice im Niemandsland. Wie die deutsche Frauenbewegung die Frauen verlor (2012). Ihr Bestseller Als die Soldaten kamen (2015) über die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs wurde breit besprochen und in mehrere Sprachen übersetzt. Miriam Gebhardt lebt in Ebenhausen bei München. Am Dienstag, dem 9. April 2019 präsentierte die Münchner Historikerin Miriam Gebhardt ihr neues Buch „Wir Kinder der Gewalt“ in der Urania in Berlin im Gespräch mit der Redakteurin des Berliner „Tagesspiegel“ Caroline Fetscher.

Wir Kinder der Gewalt von Miriam Gebhardt

Das Aufeinandertreffen der deutschen Zivilbevölkerung mit den einmarschierenden Siegergruppen am Ende des Zweiten Weltkrieges war begleitet von massenhafter sexueller Gewalt. Dabei spielte es keine Rolle, ob sich die Menschen auf der Flucht befanden, ob sie evakuiert waren, in zerstörten Städten oder auf Bauernhöfen lebten, ja, nicht einmal, ob sie aus einem Konzentrationslager befreit worden waren. Niemand war vor den vergewaltigenden Soldaten der Siegermächte sicher. Wie die Autorin bereits in ihrem vorherigen Buch „Als die Soldaten kamen“ dargelegt hatte, drohte die Gefahr eines gewaltsamen Übergriffs von allen Seiten. Das Vorurteil, das sich bis heute hält, dass die Massenvergewaltigung vorrangig ein Problem der Flüchtlinge und Vertriebenen im Osten und der Berliner gewesen sei, ist falsch.
Sicherlich waren die Gebiete im Osten und in Berlin aufgrund des Kriegsverlaufs besonders gefährdet, aber sie standen auch unter besonderer Bobachtung, denn es handelte sich um die Einflusssphäre der Roten Armee, vor der die Deutschen am meisten Angst hatten, nicht zuletzt aufgrund der Nazipropaganda im 2. Weltkrieg.
Nach einer Hochrechnung von Miriam Gebhardt kam es zwischen Kriegsende 1945 und 1955, als die Besatzungszeit vorbei war, zu knapp 900.00 Vergewaltigungen durch Soldaten der siegreichen Armeen. Etwa 1/3 davon dürfte auf das Konto der Westmächte gehen, auf Amerikaner, Briten, Franzosen und deren Verbündete wie die Kanadier. Der Versuch, heute die genauen Anteile der Verbrechen zu quantifizieren, ist allerdings unmöglich und im Übrigen auch müßig. Kriegsverlauf, Gruppenstärken, besetzte Gebiete und Größe der Zivilbevölkerung waren nicht vergleichbar, sodass am Ende nur eines festzuhalten bleibt: die Uniformen unterschieden sich, die Taten nicht.
Die Opfer dieser sexuellen Kriegsgewalt rangen oft ein Leben lang mit seelischen Problemen. Kinder, die aus den Vergewaltigungen hervorgingen, wurden quasi mit einer Erbschuld geboren, Familien litten vielfältig – und zum Teil bis heute – unter der belastenden Vergangenheit.
Das Buch gliedert sich in die Schilderung 5 ausführlicher Lebensgeschichten und daran anschließende allgemeine Kapitel. Ziel von Gebhardt ist es, dem Einzelfall genügend Raum zu geben, dann aber immer wieder den Fokus auf die allgemeine Situation zu richten, um Analyse und Einordnung zu ermöglichen. Denn viele der erschreckenden Details der Lebensgeschichten lassen sich nur vor dem allgemeinen Zeithintergrund verstehen. In die übergeordneten Kapitel sind zahlreiche andere Quellen aus Archiven sowie aus eigener Erhebung, nicht zuletzt aus Dutzenden von Zuschriften und kürzeren Gesprächen mit Bertoffenen eingeflossen. Anhand dieser bewegenden Fallgeschichten zeigt Miriam Gebhardt auf, welche tiefe Spuren die massive Gewalterfahrung in den Jahren 1945 bis 1955 in der deutschen Gesellschaft hinterlassen hat. Oft bestimmte das Kriegsende ein Familienschicksal, das bis in die heute erwachsene Enkelgeneration nicht überwunden ist. Dieses aufsehenerregende Buch schildert, dass die gängige Formel – Russen waren Vergewaltiger, Amerikaner Befreier – keiner wissenschaftlichen Prüfung standhält. Das Buch „Kinder der Gewalt“ versucht, die speziellen Erfahrungen der Kinder der Vergewaltigungsopfer zu fassen und in das Gesamtbild der Kriegskindheit zu integrieren.
Miriam Gebhardt: Wir Kinder der Gewalt, Wie Frauen und Familien bis heute unter den Folgen der Massenvergewaltigungen bei Kriegsende leiden, Hardcover mit Schutzumschlag, 304 Seiten, ISBN: 978-3-421-04731-1, € 24,00