Hannah Coler: Cambridge 5 – Zeit der Verräter u. ein Nachwort der Autorin

Der Spionageroman Cambridge 5 von Hannah Coler spielt auf drei Zeitebenen: in den Dreißigerjahren, den Siebzigerjahren und heute. Multiperspektivisch erzählt, geht es um Verrat, Intrige und Politik. Ein großartig recherchierter, intelligenter und auf britische Weise sehr amüsanter Campuskrimi mit milieugerechten Charakteren. Geschickt wie die Autorin die fiktiven Teile des Romans mit den tatsächlichen Geschehnissen verquickt. Eine neue Form des Agentenromans der auch die biographischen Daten der handelnden Personen und deren soziologischen Hintergründe ausleuchtet.

Hannah Coler
Foto Karlheinz Schindler

Hannah Coler ist das Pseudonym der deutschen Historikerin Karina Urbach. Sie studierte Geschichte in Cambridge und lehrte an deutschen und britischen Universitäten. Als gefragte Expertin wirkte sie bei zahlreichen ZDF- und BBC-Dokumentationen mit. In ihrem Debütroman Cambridge 5 – Zeit der Verräter bedient sich Karina Urbach ganz bewusst des belletristischen Genres und kombiniert wahre Begebenheiten mit fiktiven Elementen, um Geschichte auch für den Laien spannend zu erzählen. Die Autorin hat auch einen ganz persönlichen Bezug zur Welt der Spionage – ihr Vater hat während und nach dem Zweiten Weltkrieg für den amerikanischen Nachrichtendienst gearbeitet. Karina Urbach alias Hannah Coler lebt heute in der Nähe von New York

Die Zeiten der legendären Cambridge 5 scheinen lange vorbei. Doch dann wird Hunt des Mordes an einem ehemaligen Kommilitonen verdächtigt. Um sich an der Aufklärung des Falles zu beteiligen, fangen die Studenten Wera, David und Jasper an zu ermitteln. Gemeinsam kämpfen sie sich durch das Labyrinth britischer Archive und tauchen immer tiefer in die Methoden des russischen Geheimdienstes ein. Unterstützt werden sie dabei von der jungen Russin Polina, die in Cambridge als Au Pair arbeitet und ihnen bei der Übersetzung der russischen Quellen hilft. Bald stoßen sie auf den Codenamen eines Agenten, der immer noch für einen feindlichen Geheimdienst zu arbeiten scheint. Und auch ein Studentenaufstand von 1970 gibt ihnen Rätsel auf – welche Rolle spielte damals Hunt, der als Anführer der Demo gilt und trotzdem nirgends Erwähnung findet? Den drei Studenten ist klar, dass die Spionageära von Cambridge noch lange nicht zu Ende ist. Doch sie müssen vorsichtig sein, denn wer sich in Gefahr begibt, kann darin umkommen … Im Wechsel zwischen den Zeitebenen erzählt Hannah Coler neben einem fiktiven Mordfall in der Gegenwart die wahre Lebensgeschichte des berühmten Agenten Kim Philby. Dabei zeichnet sie nicht nur die Radikalisierung eines anfangs unpolitischen Studenten durch russische Geheimdienste nach, sondern sie zeigt außerdem, welche Rolle Studenten für Geheimdienste bis heute spielen. Das verdeutlicht auch ein aktueller Skandal, der erst vor kurzem durch die britische Presse ging: Mit Hilfe eines russischen Studenten waren große Geldsummen in eine Cambridger Vorlesungsreihe geflossen. Die Leiter der Vorlesungsreihe – zu denen auch der ehemalige Chef des Auslandsgeheimdienstes MI6 gehörte – traten aus Angst vor einer Unterwanderung zurück. Kurz darauf wurde bekannt, dass General Michael Flynn, Trumps ehemaliger Sicherheitsberater, bei einem Vortrag für das Seminar eine russische Doktorandin kennengelernt hatte. Seine Emails an sie sind seit 2017 Gegenstand der Untersuchung über die Russlandkontakte der Trump-Administration geworden. Er unterschrieb sie als “General Micha”

Hannah Coler: Cambridge 5 – Zeit der Verräter, Roman, 416 Seiten Limes Verlag,€ 19,99

Nachwort der Autorin:
Als Achtjährige waren mir an meinem Vater Dinge aufgefallen, die mich verwirrten. Ich hatte einen Vater, der sehr viel älter war als die Väter meiner Freunde. Er hatte lange in Amerika gelebt, und wir besaßen amerikanische Pässe. Mir wurde auf Nachfrage erklärt, es wäre „sicherer“, solche Pässe zu besitzen. Da ich damals kein Wort Englisch sprach, hoffte ich, wir würden sie nie benutzen müssen. Am Wochenende durfte ich meinen Vater manchmal zum Düsseldorfer Hauptbahnhof begleiten, um englische Zeitungen zu kaufen. Er verschwand dann bei den Schließfächern, während ich im Zeitungsladen auf ihn wartete. Natürlich hoffte ich, er würde mit etwas Aufregendem zurückkommen, aber unter seinem Arm steckte immer nur die International Herald Tribune. Einmal nahm er mich in eine Kneipe mit, die in einer ziemlich heruntergekommenen Gegend lag. Er traf dort eine Frau im Mickey-Mouse T-Shirt, die von einem jungen Mann begleitet wurde. Beide schienen von meiner Anwesenheit nicht begeistert zu sein, und mein Vater fragte mich, ob ich nicht hinausgehen wolle um mir die Umgebung anzusehen. Nach fünf Minuten entschied ich, dass mir die Umgebung zu unheimlich war (ich war ein Kind mit starken Sicherheitssensoren) und kam zurück. Als meine Mutter von dem Vorfall hörte, wurde sie wütend. Sie hasste den Beruf meines Vaters. Er arbeitete seit dem Zweiten Weltkrieg als Nachrichtenoffizier für die Amerikaner. Das war für einen Emigranten seiner Generation nicht unbedingt ungewöhnlich. Als 20jähriger war er mit einem Stipendium nach Amerika gekommen. Nachdem die USA in den Krieg eingetreten waren, wurde er – wie so viele deutschsprachige Emigranten – Teil des Counter Intelligence Corps (CIC). Seine Operationen waren so erfolgreich (und vor allem einfallsreich), dass man ihn auch nach dem Krieg behalten wollte. Aber die neugegründete CIA war eine andere Art von Organisation als der CIC. Ein unkonventioneller Nachrichtenoffizier wie mein Vater wurde in den 1950er Jahren suspekt. In der McCarthyzeit konnte jeder mit ausländischen Wurzeln und „liberalem“ Gedankengut verdächtig werden. Irgendwann kam es zum Bruch mit der CIA. Trotzdem scheint mein Vater immer wieder für sie gearbeitet zu haben, denn meine Mutter entwickelte eine ohnmächtige Wut auf diese „Organisation“.

Mein Vater starb kurz nach dem Vorfall mit der Mickey-Mouse-Frau. Er hinterließ Unmengen von Schlüsseln, die nichts öffneten. Irgendwann warf meine Mutter sie weg. Ich war acht Jahre alt und der einzige Anhaltspunkt, den ich hatte, war eine Frau im Mickey-Mouse T-Shirt. Sie fiel mir Jahre später wieder ein, als ich in Cambridge Geschichte studierte. Die Stadt wimmelte von Spionagegeschichten und jeder schien jemanden zu kennen, der irgendwann einmal “beinahe” von MI6 oder MI5 rekrutiert worden war. Ein paar der Geschichten klangen glaubhaft, denn die Universität hatte auf diesem Gebiet eine lange Tradition. In den 1930er Jahren war Cambridge der Ort gewesen, an dem sowjetische Nachrichtendienste ihre erfolgreichsten Spione rekrutiert hatten. Junge, begabte Studenten aus bestem Hause, wurden hier zu Stalins Agenten. Der Berühmteste von ihnen war Kim Philby der nach seiner Enttarnung 1963 in die Sowjetunion floh. Doch nicht nur der sowjetische, auch der britische Geheimdienst war in Cambridge immer aktiv gewesen. Junge Cambridgestudenten wie Harry Hinsley halfen während des Zweiten Weltkrieges dem britischen Nachrichtendienst, deutsche Funksprüche zu entschlüsseln.
Hannah Coler (alias Karina Urbach): Cambridge 5 – Zeit der Verräter

In meinem wöchentlichen Cambridger Intelligence Seminar erfuhr ich viel über diese männlichen Spione, aber wenig über die Frauen, die mit ihnen gearbeitet hatten. Sie tauchten in allen Büchern über Geheimdienste nur in Fußnoten auf. Ich dachte an die Frau im MickeyMouse-Shirt und fragte mich ob ich mich geirrt hatte, ob Frauen vielleicht nur als Sexfallen von Geheimdiensten eingesetzt werden. Und dann stellte mir jemand Daphne Park (1921-2010) vor. Sie saß als Baroness Park of Monmouth im House of Lords und sah nicht wie eine Mata Hari aus. Nichts an Daphne war sexy. Sie war eine runde Frau, mit Brille und praktischem Haarschnitt, die sich ganz offensichtlich nicht für ihr Äußeres interessierte. Man hätte sie als Miss-Marple-Darstellerin besetzen können, eine Frau unbestimmten Alters die an jeder Bushaltestelle übersehen wird. Genau das war immer Daphnes größte Stärke gewesen. In den 1950er Jahren hielten die Russen sie für die neue Köchin an der Britischen Botschaft in Moskau. Tatsächlich war sie eine der besten Spione von MI6. Daphne hatte ihre Kindheit in Afrika verbracht. Ihr Vater arbeitete wie viele Briten seiner Generation im Empire. In einer Kolonialfamilie aufzuwachsen bedeutete, dass man sich keine Sentimentalitäten erlauben konnte. Schulpflichtige Kinder mussten die Familie verlassen, um in England eine bessere Ausbildung zu erhalten. Daphne war hochbegabt, und man schickte sie mit elf Jahren auf eine englische Mädchenschule. Von diesem Zeitpunkt an war sie auf sich allein gestellt, ihre Eltern sah sie erst fünfzehn Jahre später wieder. Der Krieg und ein paar andere Dinge kamen dazwischen. Nach einem Studium in Oxford übernahm Daphne 1944 die Aufgabe, Widerstandsgruppen in Europa zu koordinieren. Mit erst 23 Jahre wurde sie zu einer Art Mutter der Kompanie, mit der man jede Bombardierung überleben konnte. Auch später wollten Agenten für Daphne arbeiten, weil sie wussten, dass sie ihre Leute immer aus den schwierigsten Situationen herausholen würde. Sie selbst ging keiner schwierigen Situation aus dem Weg. Es gab viele davon, in der Sowjetunion, im Kongo und in Vietnam. In Afrika musste Daphne einmal mitanhören, wie einer ihrer Informanten im Keller gefoltert wurde. Ein Stockwerk höher servierte der Folterer Daphne einen Drink und wartete auf ihre Reaktion. Daphne nahm ihren Drink und blieb auch noch zum Abendessen. Aber sie vergaß und vergab nie. Der Informant überlebte, und der Folterer wurde bald darauf tot aufgefunden.

Meine Erinnerungen an die Mickey-Mouse-Frau und Daphne sind der Grund, warum ich einen Roman über Cambridge und die Welt der Geheimdienste geschrieben habe. Ich konnte jedoch nicht voraussehen, dass kurz vor seiner Veröffentlichung ein neues Spionagefieber ausbrechen würde. Seit 2017 steht Cambridge wieder im Mittelpunkt eines Agentenskandals. Ausgerechnet das Cambridger Intelligence Seminar, in das ich selbst noch als Dozentin jeden Freitag pilgerte, ist in die Schlagzeilen geraten. Zuerst legte der ehemalige Chef von MI6, Sir Richard Dearlove, die Leitung des Seminars nieder, weil er vermutete es wäre mit russischen Geldern unterwandert worden. Kurz darauf wurde bekannt, dass General Flynn, Trumps ehemaliger Sicherheitsberater, bei einem Vortrag für das Seminar eine hübsche, russische Doktorandin kennengelernt hatte. Seine Emails an sie sind seit 2017 Gegenstand der Untersuchung über die Russlandkontakte der Trump-Administration geworden. Er unterschrieb sie als “General Micha”. Ich mochte die russische Doktorandin, sie war leicht exzentrisch und schien nie ganz nüchtern zu sein. Soweit ich weiß, besitzt sie kein Mickey-Mouse T-Shirt, aber Daphne würde mir jetzt sicher sagen, dass ich immer noch nichts verstanden habe.

Hannah Coler (alias Karina Urbach)